Seit etwa 1980 hat das Vertrauen der Bevölkerungen in die Institutionen und Verfahren der repräsentativen Demokratie tendenziell und Schritt für Schritt abgenommen; eine Entwicklung, die insgesamt bis heute anhält, nicht nur in Deutschland, sondern auch in vielen anderen Ländern mit parlamentarischem Politiksystem. Am Ende dieser negativen Prozesse konnte beobachtet werden, dass in den USA ein rechtsextremer Antidemokrat Präsident werden konnte, dass es in Brasilien ein Faschist in dieses Amt schaffte und dass zum Beispiel in Ungarn, Italien und der Türkei Führer in die höchste Staatsfunktion gelangten, die alles andere als Demokraten sind. Zugleich haben die rechtsextremen Parteien seit etwa 20 Jahren erhebliche Stimmenzuwächse erreicht, etwa in Frankreich und in Ostdeutschland. Der jahrzehntelange Siegeszug des Neoliberalismus, als dessen politischer Kern sich nicht die Internationalisierung der Wirtschaft erwiesen hat, sondern die massiven Privatisierungen öffentlicher Güter und die Deregulierung der Sozialstaaten, endet jetzt in nichts anderem als einem Angriffskrieg, betrieben von einem Land, in dem die fast totale Zerstörung eines ehemals intensiv ausgebauten sozialen Sicherungssystems mit der vollständigen Liquidierung rudimentärer demokratisch-repräsentativer Politikstrukturen einher geht, sodass es eindeutig als faschistisch zu klassifizieren ist. Der Komplex von unsozialen, unsicher machenden, entfremdenden, entwurzelnden und entgrenzenden Tendenzen, der insgesamt nicht nur Teil, sondern Wesen der Globalisierung ist, bildet das Ursachenpaket für die politische Rückwärtsentwicklung auf der Welt, die als große Regression bezeichnet wird. Es ist evident, dass die Globalisierung für die anhaltende Stärkung von rechtsgerichteten und rechtsextremen Tendenzen und Machtübernahmen weltweit die entscheidende Ursache ist; nur durch die Globalisierung und ihre Elemente kann erklärt werden, dass Millionen Wähler allein in Deutschland von der Linkspartei zur AfD umschwenken – denn diese fühlen sich im Kontext neoliberaler Politik und Gesellschaft nicht mehr repräsentiert, sie empfinden die Globalisierung als Entfremdung und die Dominanz eines spezifischen Minderheitenschutzes in der Innenpolitik als Beleg dafür, dass ihre Interessen an sozialer Sicherheit und stabiler Wirtschaft nicht mehr berücksichtigt werden. Erklärungen der großen Regression auf der Grundlage einer quasi gesetzmäßig regressiven Moderne, die zugleich eine regressive Entzivilisierung bedeuten würde und damit letztlich zur anthropologischen Grundkonstante der Moderne erklärt wird, kann ich nicht nachvollziehen. Eine solche, letztlich moderne-kritische Position bietet sehr viel Verständnis für die Regression und verweigert gleichzeitig die unbedingt notwendige Kritik am Globalkapitalismus, in dem die Interessen der Menschen vor Ort oder im eigenen Land negiert werden, zugunsten eines unbegrenzten Wettbewerbs der multinationalen, globalistischen Konzerne, deren Wohlergehen Kriterium Nummer 1 für die Politik der Staaten und der internationalen Organisationen ist. Es waren und sind die Nationalstaaten mit ihrer Politik, die seit 1980 den Globalismus in Form von Privatisierung, Abschaffung von Regeln und neoliberaler, vermeintlich befreiender Ideologie perpetuieren und damit die große Regression, den kräftigen Schwenk der Wähler weltweit nach rechts, verursacht haben, wodurch zugleich das Vertrauen in die repräsentativen Politiksystem deutlich geschwächt wurde. Die Entindustrialisierung, die Übergabe großer öffentlicher Besitztümer an private Eigentümer, das Herunterschrauben sozialstaatlicher Leistungen und die Zerstörung der sozialen Sicherheit der 60er und 70er Jahre fanden ohne jegliche Mitentscheidungsmöglichkeit der Betroffenen statt, weil sie im repräsentativen System außer dem Wahlakt keinen direkten Einfluss auf die Politik ausüben können. Viele dieser Betroffenen haben sich von linken Parteien weg und zu den rechten hin orientiert, weil sie den Eindruck hatten, dass Globalisierung und Neoliberalismus, zusammen mit einer Ideologie heuchlerisch-krampfartiger Multikulturalität, aus dem linken oder linksliberalen Politikspektrum kommen, sodass die Linke schließlich als Auslöser ihrer verschlechterten und unsozialen Situation betrachtet wurde.
Unabhängig von diesem Hintergrund gibt es eine unausweichliche Anforderung für das politische System, sich wesentlich stärker vom Souverän selbst anleiten und zu steuern zu lassen, durch den schrittweisen Übergang zu einer direkten Demokratie, mittels deren Verfahren auch die Folgen von Globalisierung und Neoliberalismus zu verhindern gewesen wären. Historisch ist dabei zu beachten, dass die direkte Demokratie bei den alten Griechen zum Beispiel zum guten Funktionieren der Gesellschaft und ihres Wohlstands beitrug, insbesondere zur Zeit des Perikles. Logisch wäre die direkte Demokratie auch, wenn sich der Liberalismus klassischer Prägung selbst ernster nehmen würde, denn das Repräsentationssystem ist Teil einer demokratisch halbierten Moderne – würde er diesen Schritt tun, müsste er mit seiner Konzeption von Individuum und Freiheit eigentlich wollen, dass jeder einzelne Mensch voll über die Politik mitbestimmt und seine Entscheidungskompetenz nicht anderen, also Repräsentanten, überlässt. Mein dritter Grund für die direkte Demokratie ist das Grundgesetz mit Artikel 20, wo festgelegt ist, dass alle Staatsgewalt vom Volk ausgeht und von diesem “in Wahlen und Abstimmungen” ausgeübt wird. Mit dem Begriff “Abstimmungen” beinhaltet das Grundgesetz die Idee des permanenten Plebiszits – das Grundgesetz lässt die direkte Demokratie ausdrücklich zu, sie steht im Einklang mit der Verfassung. Weiterhin wissen wir aus zeitgenössischen repräsentativen Befragungen, dass das repräsentative Politiksystem immer wieder dazu geführt hat und führt, die Meinungen der Bevölkerungsmehrheit zu übergehen und Entscheidungen zu treffen, die diese nicht wollte bzw. nicht will. Dazu gehören u. a. die Einführung des Euro, Steuererleichterungen für Reiche, der Abbau des Sozialstaats, die Schaffung des Niedriglohnsektors und viele andere Maßnahmen, die gegen den Willen der Bundesbürger umgesetzt wurden. Einen fünften Grund für die Einführung der direkten Demokratie bildet eine spezielle Problematik des Parlamentarismus, die mit den drei Aspekten Intransparenz, Parteispenden und Lobbyismus verbunden ist. Diese drei Problembereiche sind in einer direkten Demokratie natürlich viel besser zu bearbeiten, denn hier spielt die Öffentlichkeit der Demokratie eine weitaus stärkere Rolle, die Heimlichtuerei der Politiker/innen würde erheblich reduziert. Der sechste und wichtigste Grund für die Einführung der direkten Demokratie ist, dass das repräsentative System es seit Jahrzehnten nicht mehr schafft, die sozialen, ökologischen und demokratischen Anforderungen der Gesellschaft zu erfüllen. Das politische System der Bundesrepublik wird weitgehend für die Zwecke mächtiger und reicher Minderheiten instrumentalisiert. Es ist eine illusorische Vorstellung, 700 Menschen könnten tatsächlich die 83 Millionen Menschen im Land vertreten und deren Interessen wahrnehmen, das ist nicht machbar. Deshalb muss der Souverän die Politik schrittweise selbst in die Hand nehmen und dazu kommen, die Gesetze und Regeln für Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur grundsätzlich direkt zu bestimmen. Natürlich kann in der direkten Demokratie auch weiterhin ein Parlament bestehen und Gesetze beschließen, aber sie müssen durch Volksentscheide außer Kraft gesetzt werden können und das Volk muss selbst das Recht haben, Gesetze zu entwerfen und darüber zu entscheiden. Hätten wir die direkte Demokratie seit Beginn der Bundesrepublik gehabt, würden wir heute in einer sehr viel progressiveren, humaneren, sozialeren und nachhaltigeren Gesellschaft leben. Für den Weg zu einer direkten Demokratie müssten allerdings die vom Grundgesetz vorgegebenen Mittel und Wege eingehalten werden. Und es wäre logisch und sinnvoll zugleich, die direkte Demokratie in der Politik durch die Umsetzung des Demokratieprinzips in allen Bereichen der Gesellschaft zu untermauern, also die Unternehmen, Organisationen und Institutionen des Landes zu demokratisieren. Dieses Gesamtkonzept einer direkten Demokratie in der Politik in Verbindung mit der Demokratisierung der Gesellschaft kann nicht nur Entwicklungen wie die große Regression verhindern, es würde auch einen unüberwindbaren Schutzwall gegen alle Formen von Autoritarismus, Faschismus und Patriarchat bilden. Literatur: Wolfgang Abendroth, Das Grundgesetz, Pfullingen 1972; Gregor Hackmack, Demokratie einfach machen. Ein Update für unsere Politik, Hamburg 2014; Silvano Moeckli, So funktioniert direkte Demokratie, München 2018; Paul Schreyer, Die Angst der Eliten. Wer fürchtet die Demokratie?, Frankfurt/Main 2018. Paul Tiefenbach, Alle Macht dem Volke? Warum Argumente gegen Volksentscheide meistens falsch sind, Hamburg 2013; Heinz Arnold, Linke Politik. Eine kritische Einführung, Hamburg 2020.