Wir leben ziemlich genau 400 Jahre nach dem Erscheinen von Campanellas Schrift über den Sonnenstaat, einer sehr konkreten und weltlichen Beschreibung seiner Vision einer guten Zukunft für die Menschheit. Sie wurde 1602 geschrieben und 1623 erstmals auf Deutsch veröffentlicht, in Frankfurt am Main. Ihre heutige Lektüre – es sind nur 50 gedruckte Seiten – ist vor allem deshalb noch lohnend, weil sie in vielen Punkten für ein Modell von Zukunft und Fortschritt steht, das uns trotz ihres historischen Alters weit voraus ist; es ist sogar ungewiss, ob wir dessen Reife und Entwicklungsniveau jemals erreichen werden.
Campanellas Sonnenstaat ist charakterisiert durch umfassende Bildung, Wissenschaftlichkeit, hoch entwickelte Technik (man fliegt schon), durch Sport und Kultur auf höchstem Level, Gemeinbesitz, Solidarität und soziale Gleichheit, weitreichende Flexibilität in der Arbeitswelt bei vier Stunden Arbeit am Tag, direkte Demokratie und Philosophenmacht, Religion und Astronomie, starke Rechtsstaatlichkeit, Gleichberechtigung von Frau und Mann mit einer Tendenz zur Frauenherrschaft, durch internationale Offenheit und Zusammenarbeit und ein Menschenbild, das nur einen Kern hat, die Freiheit.
Nur einige Elemente, die zeigen, dass Campanella noch heute auf der Spitze des Fortschrittsspeers reiten würde: In seinem Sonnenstaat gibt es keine Gefängnisse, Menschen mit Einschränkungen werden ohne Ausnahme in die Arbeitswelt integriert und Fremde, die ins Land kommen, können nach zwei Monaten Arbeit Bürger des Sonnenstaats werden. Für die Düngung in der Landwirtschaft werden weder Mist noch Jauche verwendet. Manuelle Arbeit wird genauso hoch geschätzt wie geistige Arbeit und alle Kinder werden in allen Disziplinen umfassend gebildet, in einem einheitlichen Bildungswesen. In monatlichen Vollversammlungen entscheidet die erwachsene Bevölkerung direkt über politische Angelegenheiten.
Ich halte es nicht nur für legitim, sondern für dringend erforderlich, die heutige Realität der Bundesrepublik anhand wesentlicher Merkmale des Sonnenstaats von Tommaso Campanella zu messen und zu beurteilen. Ich möchte diesen Vergleich hier nicht durchführen, aber einige Aspekte nennen, mit denen der italienische Mönch – der 27 Jahre eingekerkert wurde, weil sein Denken nicht den Dogmen der damals herrschenden klerikalen und weltlichen Mächte folgte – nicht nur seiner Zeit, sondern auch unserer heutigen Wirklichkeit weit voraus war, bewegt von dem schon damals nicht mehr zu unterdrückenden Motiv allen Fortschritts: der menschlichen Freiheit.
In diesem unserem heutigen Land besteht keinerlei Tendenz zu sozialer Gleichheit oder umfassender Hilfsbereitschaft und Solidarität. Im Gegenteil, die soziale Ungleichheit und die Egomanie, das aggressive Voranschreiten der Vermögenden und Reichen werden immer stärker. Die wirtschaftliche und berufliche Situation von Behinderten bessert sich kaum, viele Unternehmen zahlen lieber Strafgebühren, anstatt Menschen mit Einschränkungen einzustellen. Manuelle Arbeit wird bei uns grundsätzlich schlechter bezahlt als geistige, und dieses Phänomen bleibt ausgesprochen stabil. In der Landwirtschaft werden nach wie vor chemische Hilfsmittel eingesetzt, die gesundheitsgefährdend sind. Das Bildungssystem entspricht den Strukturen von 1871 – es ist dreigliedrig und reproduziert täglich eine veraltete Ideologie, wonach Hauptschule, Realschule und Gymnasium gebraucht werden, um eine Dreigliederung der Gesellschaft (Unterschicht, Mittelschicht und Oberschicht) auf Dauer zu sichern. Die repräsentative Demokratie bietet den Bürgerinnen und Bürgern seit etwa 300 Jahren einen Modus, bei dem sie alle vier oder fünf Jahre einmal direkt mitbestimmen dürfen, während es gerade angesichts des Aufstiegs rechtsextremer Parteien besonders wichtig wäre, den Menschen regelmäßige Mitentscheidungen durch Plebiszite zu ermöglichen. Ein Experiment in Schweden hat schon vor vielen Jahren gezeigt, dass die Rückfallquoten von Straftätern dann besonders gering sind, wenn die Gefängnisse so gestaltet werden, dass sich die Insassen nicht wie im Gefängnis fühlen, also annähernd normal-zivile Lebensbedingungen haben.
Nur wenige Beispiele aus einem 400 Jahre alten Werk von 50 Seiten zeigen, dass der historische Fortschritt offenbar in manchen und durchaus wichtigen Feldern sehr langsam weitergeht oder gar nicht stattfindet. Ich empfehle, Campanella vollständig zu lesen und sich Gedanken zu machen, warum wir es nach vier Jahrhunderten nicht geschafft haben, zentrale Fragen und Probleme von Gesellschaft, Kultur und Politik so zu lösen, dass er vielleicht heute sagen könnte: Die Menschheit ist in der Lage, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen, die sie für wesentlich hält.
Literatur: Klaus J. Heinisch (Hg.), Der utopische Staat. Morus – Utopia, Campanella – Sonnenstaat, Bacon – Neu-Atlantis, Reinbek 2001, S. 115-169.