Das Ansehen des politischen Systems in Deutschland leidet seit vielen Jahren. Politiker/innen und Vertreter dieses Systems verlieren seit Jahrzehnten an Reputation und Zustimmung, das Vertrauen in sie ist extrem stark gesunken und diese Tendenzen nehmen permanent weiter zu. Die Entfremdung zwischen der Politik als Struktursystem und als Handlungssystem von Personen auf der einen Seite und andererseits den Bürger/innen erreicht ständig neue Höhepunkte und wird sich absehbar weiter und in hohem Tempo verstärken.
Das hat mehrere Ursachen. Eine davon ist, dass sich die Politiker/innen selbst vom Bürger entfernen und entfremden, dass sie selbst den Abstand zwischen dem Souverän und dem demokratischen System vergrößern. Dazu gehört zum Beispiel ihre Sprache. Politiker bilden regelmäßig Sätze mit mehreren Einschüben, Relativsätzen und Komplikationen, die so lang und kompliziert sind, dass am Ende die Grammatik vollkommen verloren geht; da fehlt dann das Subjekt, Singular oder Plural sind falsch, Genitiv, Dativ und Akkusativ werden verwechselt, und man merkt, dass gesprochen wurde, um etwas zu sagen, das klug erscheinen soll. Leider ist es dann oft doch nur ein Beweis, dass die Politiker nicht mit den Bürger/innen sprechen, sondern mit sich selbst oder mit anderen Politiker/innen, die genauso verwickelte Sätze von sich geben, die niemand verstehen soll oder kann.
Eine andere Ursache ist, dass sich die Bevölkerungszusammensetzung nicht im politischen System wiederfindet. Im Bundestag zum Beispiel gibt es viel weniger Frauen als im Durchschnitt des Landes, weniger unterprivilegierte Gruppen wie prekäre Arbeitnehmer/innen oder Menschen mit Handicap. Das repräsentative System ist bei uns leider verzerrt und müsste in dieser Hinsicht demokratisiert werden.
Als dritte Ursache für die wachsende Distanz zwischen Politik und Bürger fällt mir immer stärker auf, wie wenig Öffentlichkeit im politischen Geschehen selbst besteht, obwohl das mit Sicherheit ein wesentlicher Schritt wäre, Bürger und politisches System einander anzunähern. Zurzeit laufen zum Beispiel Koalitionsverhandlungen für eine neue Regierung aus CDU und SPD. Und es wird doch tatsächlich von Politikern lautstark bemängelt, wenn Inhalte oder Abläufe dieser Koalitionsverhandlungen an die Öffentlichkeit gelangen. Das ist für mich unerträglich! Denn um was geht es in diesen Verhandlungen? Fast ausschließlich um Maßnahmen und Beschlüsse, die die Bürger/innen betreffen! Wieso finden solche Verhandlungen, in denen die Bürger/innen Objekte der Debaten und Entscheidungen der Verhandler/innen sind, geheim statt? Wieso wird dafür keine Öffentlichkeit hergestellt? Haben die Repräsentanten, vom Souverän gewählt und bezahlt, das Recht, hinter verschlossenen Türen über das zu verhandeln, was sie mit den Bürger/innen vorhaben, was sie von ihnen verlangen werden, was sie ihnen geben oder zumuten wollen? Ist das Demokratie? Ist es hinzunehmen, wenn die Politiker/innen tatsächlich darauf bestehen, die Regierungsvorhaben müssten im Geheimen geplant und ausgehandelt werden? Was ist das für ein Verständnis von Demokratie? Zeugt das vom Vertrauen der Politiker in die Bürger? Was haben sie da zu verstecken? Hat die Bevölkerung nicht das Recht, die Argumente in diesen Verhandlungen direkt zu hören? Könnte man nicht für jeden der Koalitionsausschüsse eine gewisse Zahl von Bürgern auslosen, die das Recht haben, dort anwesend zu sein, und zwar ohne Geheimhaltungspflicht? Könnten dort nicht die seriöse Presse und seriöse Medien dabei sein und darüber berichten?
Dieselbe Frage stellt sich natürlich auch für ganz normale Kabinettsitzungen einer im Amt befindlichen Regierung. Der Bundestag tagt öffentlich, aber wir wissen, dass heute viele Gesetze und Maßnahmen in den Sitzungen der Regierung viel intensiver und ausführlicher beraten und besprochen werden. Wieso bestehen die Politiker darauf, dass ausgerechnet diese Treffen der Minister und Staatssekretäre im Geheimen, unter Ausschluss der Öffentlichkeit, vor den Wählern verborgen, stattfinden sollen? Welchen Sinn, welche Folgen hat die Heimlichtuerei der Politiker gegenüber den Wählern? Was verbergen sie? Warum können sie sich nicht der Öffentlichkeit stellen, wenn sie Gesetze und Maßnahmen diskutieren und festlegen, von denen diese Öffentlichkeit, also alle Bürger, direkt betroffen sind?
Das sind nur wenige Bereiche, in denen Öffentlichkeit sinnvoll wäre, aber nicht hergestellt wird. Ich bin sicher, dass die Tendenzen, Protestparteien und Rechtsextremisten zu wählen, auch auf der weiterhin zementierten Nichtöffentlichkeit unseres politischen Systems beruhen. Das zu ändern und dieses System für die Bürger/innen zu öffnen, kann eine der effektivsten Veränderungen sein, um dem Rechtsruck entgegenzutreten. Der Aufwand dafür ist tatsächlich nicht groß, das kann sehr schnell gestaltet werden und Erfolge würden sich nach kurzer Zeit einstellen. Aber wer hat den Mut dazu? Oder wer denkt überhaupt im politischen System daran, sich über die Teilnahme an Talkshows hinaus für die Bürger/innen zu öffnen? Wer von unseren Politiker/innen vertraut eigentlich überhaupt den Bürger/innen und kann auf diese verheerende Heimlichtuerei in der politischen Praxis verzichten?
Literatur: Landeszentrale für politische Bildung Rheinland-Pfalz (Hg.), Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Föhren 2022; Wofgang Abendroth, Das Grundgesetz. Eine Einführung in seine politischen Probleme, Pfullingen 1972; Harald Trabold, Kapital, Macht, Poltik. Die Zerstörung der Demokratie, Marburg 2014; Benjamin Barber, Starke Demokratie. Über die Teilhabe am Politischen, Hamburg 1994.