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Akkulturation

Wie sollten die Beziehungen zwischen den Ländern und Regionen der Erde aussehen? Das ist einerseits eine Frage, die unter die Überschrift “Außenpolitik” gehört – als allgemein gültige Stichworte können Freundschaft, Gleichberechtigung, Hilfe, Weiterentwicklung, Offenheit und komplexe Zusammenarbeit genannt werden. Und natürlich, an erster Stelle, Gewaltfreiheit oder besser: Frieden.

Diese Maximen gelten für alle Kontakte zwischen verschiedenen Ländern und sind nicht verhandelbar.

Dabei erwartet niemand, dass sich die Länder durch ihre Beziehungen gegenseitig wesentlich verändern, alle können so bleiben, wie sie sind bzw. wie es ihrem Selbstverständnis entspricht. Anders war und ist es offensichtlich, wenn es um internationale Wanderungen oder Migration geht. Viele Länder erwarten oder fordern, dass sich Einwandernde assimilieren, also an die Kultur und Politik des Einwanderungslands weitgehend anpassen. Das bedeutet, sie sollen auf die Kultur und Politik ihres Herkunftslands verzichten und sich ganz in die Lebens- und Denkweise des Einwanderungslands einfügen. Dazu gehört zum Beispiel, dass sie sofort die Sprache des Einwanderungslands lernen und dessen alltägliche Praxis übernehmen. Als solche gelten sowohl das Berufs- und Arbeitsleben als auch sämtliche Freizeitbereiche. Assimilation führt in der Regel dazu, dass aus Einwandernden vielleicht nach zehn, vielleicht nach zwanzig Jahren Menschen werden, die als Einwanderer nicht mehr zu erkennen sind und einen vollständigen Anpassungs- und Integrationsprozess vollzogen haben. Aus dem Einwandernden wird ein Bürger des Einwanderungslands, der sich nicht mehr von den anderen Bürgern des Einwanderungslands unterscheidet. Sprache, Alltagsverhalten, politische Einstellungen, Denk- und Handlungsweisen gleichen dem Spektrum, das die Bürger des Landes gewöhnlich an den Tag legen. Der Einwanderer muss, wenn er diesen Weg beschreiten will, einige zentrale Elemente beachten. Dazu gehört etwa, dass er fast nur noch Kontakt mit den Einheimischen hält, dass er sich vollständig in die im Land vorhandene Kultur einfügt und natürlich die Gesetze und die Verfassung des Einwanderungslands einhält. Sofern er Kinder hat, wird er darauf achten, dass sie fast nur Kontakt mit Kindern von Einheimischen haben und sich nicht enger mit Kindern anderer Einwandernder aus seinem Herkunftsland zusammentun.

Assimilation bedeutet also für mich als Einwandernder, dass ich meine Sprache, meine Herkunft, meine vorherige Prägung, meine Denk- und Handlungsweise aus dem Herkunftsland aufgebe und mich vollständig an das Einwanderungsland anpasse, sodass mich niemand mehr als Einwanderer erkennen kann. Das klingt zunächst ausgesprochen strikt und eng, aber tatsächlich ist diese Anpassung je nach Einwanderungsland sehr differenziert. Denn es gibt Einwanderungsländer mit einem recht breiten gesellschaftlichen Feld, innerhalb dessen ich mich ohne Probleme vollständig anpassen kann. Da ist es zum Beispiel egal, ob ich katholisch oder evangelisch bin, ob ich links oder rechts wähle, ob ich kein Fleisch esse oder ob ich Risikosportarten mag usw. Dann bedeutet Assimilation eine Anpassung, die möglicherweise nur ein akzentfreies Sprechen der neuen Sprache erfordert, fast alles andere kann ich mir aus einem großen und vielfältigen Angebot aussuchen und gelte trotzdem recht schnell als assimiliert. Was sind das für Länder? Frankreich zum Beispiel, oder die USA oder Italien oder Kanada oder Deutschland oder Belgien. Also Länder, in denen bürgerliche Revolutionen, die Aufklärung, eine Trennung von Staat und Kirche, Pluralismus, die Gleichberechtigung der Geschlechter, die Bürger- und Menschenrechte nicht nur gelten, sondern historisch erkämpft und bewusst etabliert wurden, um eine Art von Freiheit zu erschaffen, hinter die es kein Zurück mehr geben kann und darf, die Freiheit der Moderne. Wenn also diese Länder von den Zugewanderten eine Assimilation fordern, finde ich das vollkommen richtig. Es handelt sich bei dieser Assimilation um eine Anpassung an die freiheitliche, demokratische und progressive Kultur der Moderne, deren oberstes und nicht diskutierbares Axiom die Gleichheit aller Menschen ist, unabhängig von Alter, Geschlecht, Nationalität, Aussehen, Religion, Ideologie, Einkommen, sozialer oder räumlicher Herkunft und Sexualität. Bei dieser Assimilation können sich die meisten Einwandernden aus einem riesigen Spektrum von Möglichkeiten vieles aussuchen und verfügen über ein sehr viel höheres Ausmaß an Freiheiten als in ihren Herkunftsländern.

Denn viele Einwandernde kommen aus Ländern, in denen Aufklärung und Moderne nicht stattgefunden haben. Das sind Länder, in denen Diktaturen, staatlich aufgezwungene Einheitsreligionen, Frauenunterdrückung, Unterdrückung der Meinungsfreiheit, Verhinderung der Menschen- und Bürgerrechte, Einparteiensysteme, Chauvinismus, Nationalismus und andere Strukturen mit undemokratischem und nicht pluralistischem Wesen herrschen – viele wollen gerade wegen dieser inhumanen Eigenschaften ihrer Länder auswandern, aber viele würden auch gerne mehr Wohlstand genießen, als es in vielen dieser unmenschlichen Systeme für die Mehrheit der Bevölkerung möglich ist.

Wenn diese Menschen in ein Land von Aufklärung und Moderne kommen, wird von ihnen zurecht eine Assimilation erwartet. Sie sollen sich in ein System einfügen, in dem im Gegensatz zu ihrem Herkunftsland die Strukturen und Elemente gelten, mit denen die Menschen- und Bürgerrechte seit Jahrhunderten verknüpft sind und als unabdingbar gültig betrachtet werden. Es wird ihnen nicht erlaubt, gegen eine oder mehrere der tragenden Säulen der Moderne zu verstoßen. Sie müssen die liberalen Gesetzes- und Verfassungsordnungen in vollem Umfang einhalten. Sie dürfen keine Frauenunterdrückung praktizieren und keine Einheitsreligionen propagieren. Sie dürfen im öffentlichen Raum keine religiösen Symbole tragen und keine ethnischen Gettos bilden. Es wird ihnen nicht erlaubt, die freien und aufgeklärten Länder in Richtung Diktatur, Faschismus oder Autoritarismus zu beeinflussen. Sie dürfen keine Chance haben, die Rechte und Freiheiten der Länder der Moderne dafür zu missbrauchen, um diese Rechte und Freiheiten abzuschaffen und faschistische, islamistische, autoritäre, fundamentalistische, undemokratische oder nicht pluralistische Systeme und Strukturen aufzubauen oder anzustreben.

Aufklärung und Moderne, Liberalität und politische Freiheit, Menschen- und Bürgerrechte müssen sich laut und deutlich wehren, wenn Angriffe auf sie evident werden. Das gilt nicht nur für die Einheimischen eines Landes, sondern auch für die vielen Zuwandernden, die in diesen Aspekten keinerlei Erfahrung oder positive Einstellung mitbringen. Insofern betrifft der Kampf für Demokratie und Freiheit nicht nur die Rechtsextremen unter den Bürgern eines Landes, sondern auch alle Zugewanderten, und zwar über die Generationen hinweg.

Um diese grundsätzliche Situation als eine Anforderung an Zuwandernde auf einen Begriff zu bringen, der dem Verhältnis von Moderne und Vormoderne, von Freiheit und Unfreiheit besser gerecht wird als der möglicherweise zu eng gefasste Begriff der Assimilation, schlage ich für den Prozess der Anpassung Zuwandernder in aufgeklärte und moderne Länder vor, diesen als Akkulturation zu bezeichnen. Das ist ein Vorgang, der von beiden Seiten Freiwilligkeit und Wechselseitigkeit impliziert und von Zwängen und Sanktionen frei bleiben kann, wenn er tatsächlich beabsichtigt ist und auch erreicht wird. Zuwanderung in ein bestimmtes Land bedeutet, dass sich das Einwanderungsland durch die Zuwandernden ändert, daran kann es keinen Zweifel geben und darin liegt ein großes, positives Potenzial. Zugleich müssen sich die Zuwandernden ändern und als zukünftige Bürger des neuen Landes dessen zentrale kulturelle und politische Strukturen übernehmen, sich also ebenfalls ändern. Sie müssen die wesentlichen Säulen von Aufklärung, Demokratie, Freiheit und Pluralismus akzeptieren. Akkulturation ist das Hineinwachsen eines Menschen in seine kulturelle Umwelt. Schön wäre es, alle Migrierenden und alle mit Migration Befassten würden sich dessen bewusst werden und Akkulturation als ihr Ziel begreifen.

Literatur: Michael Walzer, Über Toleranz. Von der Zivilisierung der Differenz, Hamburg 1998; Volker Weiß, Die autoritäre Revolte. Die neue Rechte und der Untergang des Abendlandes, Stuttgart 2018.

Dr.HeinzArnold

Abitur in Biedenkopf/Lahn, Studium Anglistik, Politik, Geografie, Philosophie, Soziologie, Pädagogik an den Universitäten Heidelberg und Marburg/Lahn, Promotion Dr. rer. pol. Universität Kassel, Lehraufträge in Geografie und Politik an den Universitäten Trier und Kassel, zahlreiche Buch- und Zeitschriftenveröffentlichungen in Politik, Soziologie und Geografie, in der politischen Linken aktiv seit 1968. Bücher u.a.: Linke Politik - eine kritische Einführung, Hamburg 2020; Gesellschaften, Räume, Geografien, Trier 1997; Disparitäten in Europa: Die Regionalpolitik der Europäischen Union - Analyse, Kritik, Alternativen, Basel/Boston/Berlin 1995; Saar-Lor-Lux/Trier-Westpfalz/Wallonie - Strukturen und Perspektiven einer Europäischen Großregion, Trier 1998; Soziologische Theorien und ihre Anwendung in der Sozialgeografie, Kassel 1988; Aldous Huxley, Brave New World, Berlin 2005 (Hrsg.); Lektüreschlüssel George Orwell, Animal Farm, Stuttgart 2011

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