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Buch der Woche: Kritik und Zukunft des Sozialismus

Svetozar Stojanovic, Kritik und Zukunft des Sozialismus, Frankfurt/Main 1972, 180 Seiten. Dieses Buch wurde 1968 geschrieben. Ich habe es mehrfach gelesen und war stets neu fasziniert vom Durchblick des Autors, zuletzt im Februar 2023. Bei der ersten Lektüre war ich in der 12. Klasse am Gymnasium Biedenkopf/Lahn und fand es extrem interessant, denn ich hatte vorher keine Ahnung von der hier intensiv dargestellten Möglichkeit, Sozialismus und Demokratie zusammenzufügen. Das war 1971, als ich meine ersten politischen Erfahrungen mit einem Land im demokratischen Aufbruch nach links gesammelt hatte. Das Buch ist also 55 Jahre alt. Da stellt sich die Frage, was es uns heute noch zu sagen hat oder ob es irgendwie aktuell ist. Dazu komme ich später. Einen Satz erlaube ich mir noch vorweg. Ich bin kein richtiger Marxist, aber ich denke, dass Marx bis heute der größte unter allen Gesellschaftswissenschaftlern geblieben ist, und diese Erkenntnis verdanke ich ebenfalls diesem Taschenbuch von Stojanovic. Zunächst zum Inhalt und zur Methode: Der Autor ist Marxist und zwar als Philosoph. Er geht davon aus, dass es für die marxistische Kritik darum geht, die Dialektik der Entfremdung als Ausgangspunkt zu nehmen, wenn der bestehende Sozialismus analysiert werden soll. Das ist seine Grundlage für die Kritik am damals realen Sozialismus und seiner kommunistischen Parteien, als deren Kernproblem er den Etatismus erkennt, die Macht von Staat und Bürokratie in Form von selbsternannten Eliten. Als Dilemma dieser Epoche betrachtet er die Unfähigkeit, in den sozialistischen Staaten um ca. 1970 die Demokratie oder die Selbstverwaltung wirklich umzusetzen, also eine politische Grundproblematik der kommunistischen Parteien. Dabei muss beachtet werden, dass Stojanovic Jugoslawe ist – er kommt aus dem einzigen Land mit sozialistischem Anspruch, in dem überhaupt größere Diskussionen über das Verhältnis von Sozialismus und Demokratie bzw. Selbstverwaltung stattfanden und auch reale Schritte in dieser Richtung unternommen wurden; die Länder im Machtbereich der Sowjetunion fallen unter die Kategorie “etatistisch”, also staatlich-bürokratisch-elitär strukturiert. Seine Reflexionen beziehen sich auf das jugoslawische Modell von Sozialismus, das ausgesprochen antistalinistisch und basisdemokratisch konzipiert war und in vollem Gegensatz zur autoritär-bürokratischen UdSSR stand. Um zu verstehen, was das Besondere des jugoslawischen Selbstverwaltungsmodells war, müssen zwei zentrale Elemente erfasst werden: Erstens sollen alle staatlichen Organe der gesellschaftlichen Selbstverwaltung untergeordnet werden und wirkliches Gesellschaftseigentum kann es nur geben, wenn es selbstverwaltet ist. Folglich hat dieses Verständnis von Sozialismus nichts mit staatlichem Eigentum zu tun und genauso wenig mit staatlicher Autorität oder mit der Macht einer kleinen Gruppe an der Spitze der kommunistischen Partei. Es muss ausgeschlossen werden, dass eine kleine Zahl von Mitgliedern der Gesellschaft Beschlüsse von allgemeiner Bedeutung fasst, Oligarchie oder Oligokratie sind nicht erlaubt. An der Fassung solcher Beschlüsse sind dagegen alle erwachsenen Mitglieder einer Gesellschaft zu beteiligen – das ist Demokratie in Selbstverwaltung. Nicht erlaubt sein soll auch die Übernahme staatlicher Macht durch die Partei oder ihre Elite, denn auch damit würde die Selbstverwaltung zur Farce; letztlich hat nach Stojanovics Meinung der Komplex solcher Entwicklungen dazu geführt, dass der Sozialismus sich von den Menschen entfernt hat und von ihnen moralisch und ethisch nicht als hochwertig beurteilt wird. Stojanovic erläutert auch ausführlich, wie er marxistische bzw. sozialistische Ethik begreift; er knüpft an den von Marx mehrfach geäußerten Satz an, dass ein Ziel, das üble Mittel erfordere, kein gutes Ziel sei – eine Aussage, die diametral zum ethik- und moralfreien politischen Handeln Stalins und aller Stalinisten steht und nur beweist, dass die Praxis der sozialistischen Länder um die Sowjetunion zu keiner Zeit etwas mit Marx zu tun hatte. Marx war dafür, dass die Menschen maximal über Politik, Wirtschaft und Gesellschaft mitbestimmen sollten und er hätte sich niemals mit den umfassenden Grundrechtseinschränkungen und Freiheitsbegrenzungen im Ostblock einverstanden erklärt, das zeigen seine Berichte über die Pariser Commune ganz klar. Die oligarchische Hierarchie der UdSSR und ihrer Satellitenstaaten aber lebt noch heute. Dieses Denken bringt den heutigen russischen Führer und seine Satrapen dazu, das Land im Innern durch Terror zu unterdrücken und nach außen den Terror dazu einzusetzen, freiheitsliebende Völker in der Nachbarschaft mit brutalstem Krieg zu quälen. Insofern zeugt jede heutige Rakete auf zivile Einrichtungen und Zivilisten in der Ukraine davon, wie das autoritär-oligarchische System der UdSSR frei von Demokratie und Selbstverwaltung war und wie es so undemokratische und unmenschliche Figuren wie den aktuellen russischen Führer prägte, die noch lange nach dem Untergang der Sowjetunion deren katastrophale soziale und politische Struktur fortsetzen, auf Kosten von Millionen Menschen. Es ist kein Zufall, dass die Kritik des Autors an dem Charaktertypus Stalin bzw. Stalinist in vollem Umfang für den heutigen russischen Führer und seine Untergebenen gilt; ich erspare mir die Auflistung von negativen Adjektiven, die hier aufzulisten wären, eins ausgenommen: mörderisch.

Dr.HeinzArnold

Abitur in Biedenkopf/Lahn, Studium Anglistik, Politik, Geografie, Philosophie, Soziologie, Pädagogik an den Universitäten Heidelberg und Marburg/Lahn, Promotion Dr. rer. pol. Universität Kassel, Lehraufträge in Geografie und Politik an den Universitäten Trier und Kassel, zahlreiche Buch- und Zeitschriftenveröffentlichungen in Politik, Soziologie und Geografie, in der politischen Linken aktiv seit 1968. Bücher u.a.: Linke Politik - eine kritische Einführung, Hamburg 2020; Gesellschaften, Räume, Geografien, Trier 1997; Disparitäten in Europa: Die Regionalpolitik der Europäischen Union - Analyse, Kritik, Alternativen, Basel/Boston/Berlin 1995; Saar-Lor-Lux/Trier-Westpfalz/Wallonie - Strukturen und Perspektiven einer Europäischen Großregion, Trier 1998; Soziologische Theorien und ihre Anwendung in der Sozialgeografie, Kassel 1988; Aldous Huxley, Brave New World, Berlin 2005 (Hrsg.); Lektüreschlüssel George Orwell, Animal Farm, Stuttgart 2011

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