Zurzeit tobt der Konflikt um den Sozialstaat mal wieder in Frankreich – die Regierung Macron will das Renteneintrittsalter erhöhen, was nichts anderes als eine deutliche Rentenkürzung bedeutet. In Deutschland ticken allein im Rentenbereich mehrere Zeitbomben, die von der Politik ignoriert werden: 1. Millionen Menschen haben heute ausschließlich Minijobs und werden im Rentenalter sehr arm sein, denn sie erwerben durch die Arbeitstätigkeit nur geringe oder gar keine Rentenansprüche. 2. Es ist absehbar, dass das Niveau der gesetzlichen Rente bis zum Renteneintritt der heutigen jungen Generation erheblich sinken wird, denn dann werden wesentlich weniger Einzahler für die Rentenempfänger zur Verfügung stehen. Im Bereich der Arbeitslosenversicherung geht es vor allem um die geringen Zahlungen, die Empfänger von Hartz IV/Agenda 2010 erhalten – sie gehören fast alle zu den Armen in Deutschland. Entscheidend ist meiner Ansicht nach, dass die gesetzliche Rentenversicherung die vorhandene soziale Ungleichheit nicht nur untermauert, sondern massiv verstärkt, vor allem bei der Altersversorgung. Zur künftigen Finanzierung der Renten liegen zahlreiche Rechenmodelle vor, in denen zum Beispiel die staatlichen Zuschüsse oder die monatlichen Beitragszahlungen von Arbeitnehmer/innen und Unternehmen erhöht werden, aber es ist erkennbar, dass dabei die Tragfähigkeiten überschritten werden müssten. Eine starke Förderung der Armutsentwicklung erfolgt auch durch die bescheidenen Summen, die alle erhalten, die in den Niedriglohnbereichen tätig sind; insgesamt liegt der Anteil der Armen in diesem Land bei 15 bis 20 Prozent. Im Sektor Krankenversicherung ist der Sozialstaat gar teilweise ausgehebelt, denn die gesetzlich Versicherten erhalten über weite Strecken qualitativ und quantitativ geringere Leistungen als die Privatversicherten – hier existiert die Zweiklassengesellschaft praktisch auf gesetzlich geregelter Grundlage. Am anderen Ende der Wohlstandsskala zeigen sich die entsprechenden Kontraste besonders einprägsam. Nur ein Kriterium dazu: 2013 betrug das jährliche Durchschnittseinkommen in Deutschland 36.200 Euro, die reichsten 10 % verdienten 146.000 Euro und die unteren 50 % 12.000 Euro im Jahr. Die unteren 50 Prozent der Gesellschaft sind also extrem von der sozialen Ungleichheit betroffen, während die oberen 10 Prozent bestens wegkommen. Und alles das sind unbestreitbare Tatsachen; trotz eines ausgebauten Sozialstaats bestehen hier unfassbar große Einkommensdisparitäten und die Perspektiven für die weitere Zukunft des Sozialstaats, insbesondere der Renten, sind ausgesprochen negativ. Diese Disparitäten und die Armut im Land werden voraussichtlich weiter zunehmen. Sämtliche genannten Probleme und Tendenzen sind seit Jahrzehnten bekannt. Genauso lange finden immer wieder Veränderungen an den einzelnen Teilen des Sozialstaats als System statt, ohne dass eine dieser Entwicklungen sich geändert und positiv geworden wäre. Deshalb gibt es für mich nur noch eine Lösung für die Kernproblematik – also die Überwindung der Armut als ersten Schritt, auf Dauer, mit ausreichenden Beträgen und nachhaltig: das bedingungslose Grundeinkommen, und zwar in einer Höhe von 1.600 Euro monatlich, unversteuert und ohne Abzüge. Es ersetzt die Rentenversicherung und die Arbeitslosenversicherung, Kranken- und Pflegeversicherung werden schrittweise durch staatliche Mittel ersetzt, während die gesetzliche Unfallversicherung für alle Beschäftigten bestehen bleibt.
Für die Finanzierung des bedingungslosen Grundeinkommens gibt es verschiedene Vorschläge. Dabei sollte vor allem ein Punkt beachtet werden: Die Mittel dafür werden nicht von den Arbeitenden produziert, sondern sie kommen entweder aus dem Bereich des ökonomischen Mehrwerts oder aus Steuern, die zum Beispiel die Finanzbranche (Finanztransaktionssteuer) betreffen können, aber auch die digitalen Giganten wie Google, Amazon usw., deren Steuerzahlungen bisher recht bescheiden sind.
Das BGE wirkt gegen die soziale Ungleichheit und für die Interessen von 99 Prozent der Gesellschaft durch folgende Aspekte: Es eliminiert die Armut und verringert dadurch die soziale Ungleichheit; es mildert den zentralen Zwang des Kapitalismus, für Lohn und abhängig arbeiten zu müssen, um zu überleben; es bringt mehr Gleichheit auf dem Arbeitsmarkt, denn da die Arbeitnehmer/innen nicht jede Arbeit annehmen müssen, steigen die Löhne und die Technologie wird gefördert, um mehr interessante Tätigkeiten zu schaffen; es führt zur Anerkennung des materiellen Werts vieler Pflege- und kostenlosen Tätigkeiten wie etwa Familienarbeit, die oft von Frauen erledigt werden – deren unwürdige Situation wird mit dem BGE beendet; die kollektive Macht der Arbeitenden wird enorm gestärkt, es bringt eine deutliche Verschiebung der Machtverhältnisse zwischen den Klassen zugunsten der Lohnarbeiter/innen; Sozialwirtschaft und kooperative Marktwirtschaft werden gestärkt, weg von der Kapitalakkumulation hin zur gesellschaftlichen Kollektivakkumulation; ein großer Teil der gesellschaftlichen Arbeit wird dem Kapitalverhältnis entzogen, sodass der Kapitalismus wesensmäßig geschwächt wird und soziale und nicht kapitalistische Aufgaben und Prozesse ausgeweitet werden. Menschen können ihre Grundbedürfnisse erfüllen und verfügen über soziale Sicherheit, ohne sich monotoner und demoralisierender Erwerbsarbeit unterwerfen zu müssen, das heißt, die Freiheit des menschlichen Individuums wird in relevantem Umfang vergrößert. Das BGE bildet einen großen Schritt für den Ausstieg aus dem gewöhnlichen Kapitalismus. Literatur: Facundo Alvaredo u.a. (Hrsg.), Die weltweite Ungleichheit, München 2018; Eric Olin Wright, Reale Utopien. Wege aus dem Kapitalismus, Berlin 2017; Karl Reitter, Kritik der linken Kritik am Grundeinkommen, Berlin 2021; Christian Neuhäuser, Reichtum als moralisches Problem, Berlin 2018; Thomas Piketty, Kapital und Ideologie, München 2020; Andrew Sayer, Warum wir uns die Reichen nicht leisten können, München 2017; Heinz Arnold, Linke Politik. Eine kritische Einführung, Hamburg 2020.