Das weltweite Echo auf die Oktoberrevolution 1917, von Hobsbawm als gewaltigste Revolutionsbewegung der modernen Geschichte bezeichnet, war tatsächlich global. Sie führte zur Entstehung zahlloser kommunistischer und sozialistischer Parteien und schien den weltweiten Sieg des an Marx orientierten Sozialismus zu bedeuten. Die russische Räterepublik war für drei, vier Jahre eine extrem-demokratische und föderalistische Struktur (so Wolfgang Abendroth) und folgte dem Vorbild der Pariser Commune von 1871 ziemlich genau. Die Weltrevolution stand vor der Tür, fast alles war perfekt dafür vorbereitet.
Aber angesichts vieler Probleme entschieden die Bolschewisten sehr schnell, dass die Räte (Sowjets) der Diktatur der Partei unterworfen werden müssten und beendeten die Sowjetdemokratie – die Sowjetunion war fast von Beginn an eine Union, in der eine Parteidiktatur herrschte, das frühe Rätemodell war nur noch Makulatur, Augenwischerei. Marxisten in aller Welt haben diesen frühen Putsch gegen die Demokratie von Anfang an begründet, entschuldigt, erklärt und verharmlost. Genauso haben sie später die Wende von der Parteidiktatur zur Einpersonendiktatur Stalins begründet, entschuldigt, erklärt und beschönigt. Bis heute gibt es kein rationales Argument dafür, die Diktatur einzuführen. Wir wissen heute nur, welche Folgen es hatte – unfassbare und menschliches Ermessen weit übersteigende. Die kommunistischen Parteien und viele Linke außerhalb dieser haben nicht nur die Diktatur als System, sondern auch ihre Folgen von Anfang an bis heute mitgetragen. Sie haben ernsthaft behauptet, die von Stalin verantworteten vielen Millionen Tote seien unvermeidlich gewesen. Sie haben in ihrem jeweiligen Land jede noch so falsche Anweisung Stalins, vermittelt über die Zentrale der Kommunistischen Internationale, widerspruchslos befolgt, etwa 30 Jahre lang, bis endlich Jugoslawien und Tito Stalin widerstanden und ein eigenes Konzept umsetzten, das im Bereich von Partizipation und Mitbestimmung der frühen russischen Rätedemokratie recht nah war, die Selbstverwaltung in Wirtschaft und Politik.
Die aktive Unterstützung Stalinschen Unsinns bestand zum Beispiel für die KPD darin, angesichts der realen faschistischen Gefahr in Deutschland die SPD zum Hauptfeind zu erklären und sie von 1929 bis etwa 1935 als sozialfaschistisch zu diffamieren; dadurch wurde die Spaltung der Arbeitnehmer deutlich verstärkt, sodass es für die Nazis ein Leichtes war, ihre Ziele zu erreichen – die Zerstörung der Weimarer Republik, den Holocaust an den Juden und den Angriffskrieg quasi gegen den Rest der Welt. Leider war den Kommunisten die bürgerlich-demokratische Republik, ein riesiger sozialer und politischer Fortschritt in Deutschland, damals genauso egal wie den Nazis. Zu einem guten Stück verhalfen Stalin und die KPD Hitler an die Macht, dessen oberstes, schon lange bekanntes Kriegsziel die Vernichtung der UdSSR war!
In den Folgejahren bemerkte Stalin offenbar, dass es in der UdSSR immer noch Menschen gab, die über seine schwachsinnigen Befehle und Machenschaften in der zentralistischen Diktatur diskutieren wollten oder eine andere Meinung als er hatten. Das führte dazu, dass in den Jahren 1936-38 unzählige bekannte und weniger bekannte Politiker, Intellektuelle und Bürger auf seinen Befehl hin ermordet wurden; die Zahl geht vermutlich in die Millonen.
Anfang der 30er Jahre starben in der Ukraine und in Kasachstan Millionen Menschen, vor allem Bauern, weil deren komplette Ernten aufgrund der brutalen Zwangskollektivierung der Landwirtschaft im russischen Gebiet nach Russland verbracht, das heißt systematisch gestohlen wurden.
Die nächste schwere Verfehlung – tatsächlich ein schweres Verbrechen – der stalinistischen Diktatur war der Versuch von 1939, Finnland und Polen zu beseitigen, wobei über Polen ein Abkommen mit den Hitlerfaschisten geschlossen wurde. 1940 zwang die Rote Armee die baltischen Staaten, die Ukraine und Moldawien, der UdSSR beizutreten. Stalins nächster Howler: Er verschlief im Grunde den Beginn des deutschen Angriffs im Frühsommer 1941. Seine Naivität und die seiner kleinen Bande, die er um sich gruppiert hatte, gegenüber den Faschisten und Hitler war grenzenlos. Er begriff wochenlang überhaupt nicht, was geschah.
Jetzt kam eine einzige Phase in Stalins Herrschaftszeit, die ein positives Ergebnis brachte: Die Rote Armee kämpfte mit aller Kraft gegen die NS-Wehrmacht und besiegte sie schließlich im Frühjahr 1945, mit starker Unterstützung durch die USA. Die UdSSR hatte im zweiten Weltkrieg die meisten Opfer zu verzeichnen, wobei die meisten davon Ukrainer/innen waren, nicht zu vergessen.
Aufgrund des Siegs konnte die UdSSR ihr Staatsgebiet erweitern und ihren räumlich-politischen Herrschaftsbereich gewaltig ausdehnen – große Teile von Ost- und Mitteleuropa wurden durch die UdSSR von den Nazis und vom Faschismus befreit, um im nächsten historischen Augenblick einer als Volksdemokratie getarnten neuen Diktatur unterworfen zu werden, die sich in ihren Methoden wenig, in ihrer Ideologie aber deutlich vom Faschismus unterschied. Dabei hatte dieser Sieg, wie wir heute wissen, auch riesige Schattenseiten, zum Beispiel die terroristische interne Struktur der Roten Armee, die extreme Brutalität der Rotarmisten gegenüber deutschen Frauen (realistische Schätzungen liegen bei 2 Millionen Vergewaltigungen und 220.000 Morden), die Ausplünderung der gesamten Industrie und Infrastruktur in Ostdeutschland, die Zerstörung aller demokratischen Traditionen in Ländern wie Polen, der Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien und Bulgarien und ein insgesamt bis heute fortbestehendes extrem unzivilisiertes und unmenschliches Verhalten der Soldaten im Ausland; dieses führte auch dazu, dass die Deutschen in Millionen vor der Roten Armee als Besatzungsmacht flüchteten, während sie die Soldaten der Westmächte in der Regel begrüßten.
Natürlich waren nach Kriegsende alle vorher verbotenen Parteien wieder da, auch die Kommunisten. Eigentlich war direkt nach dem Krieg die Stimmung für sozialistische Veränderungen positiv, das zeigte sich auch in der SPD eines Kurt Schumacher oder von Otto Grotewohl im Osten. Aber anstatt diese Stimmungen aufzugreifen, stellten sich Stalin und damit alle KPs in Europa überraschend auf die Bremse. Plötzlich wollten sie, die vor dem Krieg an der parlamentarischen Demokratie überhaupt kein Interesse gehabt hatten, diese Regierungsform, sie war ihr hehres Ziel und stand ab sofort über allem. Erneut traten die KPs als massive Spalter der Linken auf und verhinderten in vielen Ländern Westeuropas den Wandel des Wirtschafts- und Gesellschaftssystems, offenbar, weil Stalin die Länder in Osteuropa in aller Ruhe zur Diktatur umkrempeln wollte, wobei ihn wesentliche Veränderungen in Westeuropa nur gestört hätten.
Was war schließlich das Ergebnis des Zweiten Weltkriegs, vor allem für Deutschland und die UdSSR? Beide hatten Millionen Tote zu beklagen, beide Länder war in großen Teilen zerstört. Deutschland hatte den Krieg begonnen und versucht, die Weltherrschaft zu erreichen, ein von Beginn an absurdes Unternehmen. Jetzt war die UdSSR Kriegssieger mit einem großen Einflussgebiet, Deutschland war besetzt und gespalten, es fehlte an allem und es gab keine Perspektive. Die UdSSR ist durch die riesige Anstrengung, zu der Hitler sie mit dem Krieg gezwungen hat, zur Supermacht geworden, die dann als erste den Weltraum eroberte. Insbesondere Ostdeutschland wurde durch den kompletten Abtransport von Industrie und Infrastruktur nach Russland wirtschaftlich so geschwächt, dass es sich bis heute davon nicht erholt hat, fast 80 Jahre später. Der Westen Deutschlands bekam dann umfangreiche Wirtschaftshilfe von dem Land, das aus dem Zweiten Weltkrieg als Sieger und als ökonomischer Gewinner hervorging, den USA, sodass die Bonner Republik weltweit unter den ersten Fünf der Wohlstandsskala landete. Die DDR bekam von Russland weniger als nichts und hatte in dieser Hinsicht keine Chance.
Was passierte noch? Wo waren noch Themen, die es rechtfertigen würden, als heute lebender Deutscher noch immer ein schlechtes Gewissen in Bezug auf die UdSSR oder Russland zu haben? Können die abstoßenden Ereignisse in Ost- und Mitteleuropa der Jahre 1945-49, die Niederschlagung der Proteste und Volksaufstände in der DDR 1953, in Ungarn und Polen 1956, in der CSSR 1968, wieder in Polen 1981, die Besetzung Afghanistans, die Aktionen in Tschetschenien und Georgien, in Moldawien, der Überfall auf die Krim 2014, das Morden in Syrien für den Diktator Assad, der Angriffskrieg in der Ukraine, also die umfangreiche Liste der Verbrechen des russischen Großmachtchauvinismus nach dem Zweiten Weltkrieg, in irgendeiner Weise die politische Linke zum Nachdenken bringen, dass es keine besondere politische Bindung an Moskau mehr geben kann? Wo ist ein Punkt, an dem sich ein heute lebender Bundesbürger noch gegenüber Russland oder russischen Bürgern schuldig fühlen müsste?
Das heutige Russland hat mit der demokratisch-plebiszitären Räterepublik von 1917-21 absolut nichts mehr zu tun. Mit dem stalinistischen Russland, der UdSSR unter dem Massenmörder Stalin verbindet es eine Menge, was Morde, Verbrechen, Völkerrechtsbruch, Folter, Brutalität und Gemeinheiten angeht, aber nichts, sofern diese UdSSR vier Jahre lang militärisch gegen den Faschismus gekämpft hat. Das heutige Russland hat auch mit dem Zarenreich noch eine Menge Ähnlichkeiten, wie wir an dem Gehabe des heutigen Führers sehen können, zum Beispiel dem albernen Personenkult.
Das heutige Russland greift andere Länder grundlos an. Es tötet gezielt Kinder und Zivilisten. Es zerstört Schulen, Krankenhäuser, Kindergärten, Geburtskliniken in der Ukraine. In seinen Organisationen von Polizei, Geheimdienst und Armee wird systematisch gefoltert. Es bricht seine internationalen Verträge und bedroht die gesamte Menschheit mit seinen Atomwaffen. Es unterstützt weltweit Faschisten und Rechtsradikale. Es ist eine große Gefahr für den Weltfrieden. Kriegsgefangene aus der Ukraine werden sehr häufig kastriert, bevor sie ausgetauscht werden. Russland begeht so viele Verbrechen in so unfassbaren Dimensionen, dass es einem die Sprache verschlägt.
Angesichts dieser Fakten ist es tröstlich, wenn Finnland und Schweden jetzt der NATO beitreten. Es ist auch angemessen, wenn Politiker, die heute Argumente und Phrasen des russischen Führers äußern, nicht wiedergewählt werden. Es ist angemessen, wenn der Rest der Welt Russland ächtet, weil es den Afrikanern Hunger anstatt Getreide aus der Ukraine zuweist. Es wäre auch angemessen, Russland aus der UNO auszuschließen; vor dem Zweiten Weltkrieg wurden Nationen, die massiv gegen das Völkerrecht verstießen, aus dem Völkerbund ausgeschlossen.
Ich wüsste gerne: Aus welchem Grund kann ein Bundesbürger noch ein schlechtes Gewissen in Bezug auf das heutige Russland haben? Wo haben wir da noch etwas abzutragen? Warum soll ich als Deutscher von heute dieses heutige Russland lieben? Muss ich mich nicht gegen alles wenden, was heute in Russland Politik ist und gegen alles, was Russland in der Außenpolitik tut? Ich fürchte, dass viele Linke mich nicht verstehen werden. Aber wenn sich die Linke nicht von Moskau löst, wird sie mit der russischen Diktatur untergehen. Das muss offen ausgesprochen werden.
Und vermutlich wäre es sinnvoll, in dieser Richtung noch einen Schritt weiterzugehen. Viele Bürger dieses Landes, die nichts mit der Linken zu tun haben, quält noch immer ein schlechtes Gewissen wegen des Überfalls der Hitlerarmeen auf Russland. Deshalb sind sie gegen Waffenlieferungen an die Ukraine. Auch ihnen muss verdeutlicht werden: Es gibt keinen einzigen Grund mehr für einen heute lebenden Deutschen, gegenüber dem heutigen Russland ein schlechtes Gewissen zu haben. Hitler hat Russland gehasst, als Rassist. Aber er hat am Ende auch Deutschland und die Deutschen gehasst und 1944/45 noch Millionen Deutsche in den Tod getrieben. Und klar ist auch: Wären wir im Jahr 1942, würde die antifaschistische Koalition der Alliierten aus USA, GB, Frankreich und vielen anderen bestehen, aber das heutige Russland stünde auf der Seite der Achsenmächte.
Literatur: Eric Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 1998; Sebastian Haffner, Anmerkungen zu Hitler, Frankfurt/Main 1981; Werner Hofmann/Wolfgang Abendroth, Ideengeschichte der sozialen Bewegung, Berlin/New York 1971, S. 197-277; Sigmund Freud, Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, Frankfurt/Main 1977.