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Die These vom Stellvertreterkrieg

Der Krieg in der Ukraine hat eine zentrale Ursache. Sie besteht im Hass der faschistischen Führung Russlands auf die Demokratie, die Toleranz und die bürgerlichen Freiheiten, also die Menschenrechte. Wo immer diese bestehen oder sich entwickeln, muss damit gerechnet werden, dass das heutige Russland sie bekämpfen wird, denn sie sind eine Gefahr für die Diktatur in Russland, insbesondere, wenn sie sich im näheren Umkreis Russlands entfalten wollen. Genau das ist in der Ukraine seit fast 30 Jahren der Fall und deshalb hat Russland die Ukraine überfallen und will sie vollständig vernichten. Die große Mehrheit der Bürger/innen der Ukraine will die bereits vorhandene Demokratie ausbauen, der EU und der NATO beitreten und sich an den Traditionen und Prinzipien von Aufklärung, Menschenrechten und Fortschritt orientieren. Dieser antagonistische Gegensatz ist der Kern und zugleich der Ursprung des Kriegs in der Ukraine. Deshalb ist es richtig, die Ukraine politisch, wirtschaftlich, kulturell und auch militärisch in jeder Hinsicht zu unterstützen, bis Russland besiegt ist. Denn eine Demokratie entspricht den Grundsätzen der Humanität und des Lebens und eine Diktatur folgt den Maximen der Unmenschlichkeit und des Todes.

Die These vom Stellvertreterkrieg unterstellt, dass die Ukraine stellvertretend für die USA kämpft und von diesen manipuliert wird, um Russland zu schwächen – zwei imperialistische Mächte begegnen sich nicht direkt militärisch, sondern indirekt in Form eines anderen Landes, der Ukraine. Die These impliziert einen gewissen Respekt für die beiden Imperien und eine veritable Verachtung für den Stellvertreter Ukraine; dieser wird erstens für ausgesprochen dumm erklärt – schließlich opfert sich das Land für die USA, die Ukrainer/innen sterben für die USA. Und zweitens wird die Ukraine als minderwertig betrachtet, denn sie ist ein kleines Land im Vergleich mit USA und Russland, ein Bauer auf dem Schachfeld imperialistischer Interessengegensätze, der diese Rolle annimmt.

Zur Stellvertreterthese gehört auch, dass es unwichtig ist, wer den Krieg begonnen hat, konkret: wer wen angreift oder überfällt. Hierzu wird dann oft fabuliert, dass es um Klassenkämpfe und Produktivkräfte geht, wenn die Verantwortung für den Krieg gesucht wird; angeblich sind hier, zusammen mit politischen Faktoren, die Hauptursachen zu suchen. Im Gegensatz zur Wirklichkeit wird dann schnell darauf verwiesen, dass es eine NATO-Osterweiterung gab, von der sich Russland – natürlich – zu Recht bedroht fühlte. Von 1999 bis heute wurden in Ost- und Mitteleuropa 15 neue Länder in die NATO aufgenommen, außerdem ist die EU im selben Zeitraum auch erheblich gewachsen. Worauf beruhte die Erweiterung der NATO? Wurden diese Länder angeworben? Nein, sie alle hatten über fast 80 Jahre bitterste Erfahrungen mit dem russischen Großmachtchauvinismus gemacht, von 1939 (Polen/Finnland) über 1941 (Baltikum) bis 1945-49 (Diktaturen in Polen, Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Ostdeutschland, der CSSR), von 1953 bis 1981 (von der UdSSR-Armee niedergeschlagene Aufstände und Revolten in der DDR 1953, in Ungarn und Polen 1956, in der CSSR 1968, in Afghanistan 1979, wieder in Polen 1980/81), also eine Reihe von aggressiven und völkerrechtswidrigen kriegerischen Aktionen, ohne Rücksicht auf die Menschenrechte oder die Souveränität der betreffenden Länder. Und aufgrund dieser sehr realen Geschichte in der Nachbarschaft des russischen Staats befürchteten sie nach 1991, dass der mächtige Nachbar sie weiterhin bedrohen und angreifen könnte – deshalb wollten sie unbedingt Mitglied der NATO werden, um sich vor der russischen Aggressivität zu schützen. Das war und ist bis heute – siehe Finnland und Schweden 2023 – die Ursache der NATO-Osterweiterung. Russland trieb und treibt alle Länder in seiner Umgebung, die sich nicht seinem Modell von Diktatur und Unterdrückung unterwerfen wollen, in die NATO. Die NATO-Osterweiterung ist das Produkt der Sowjetunion und Russlands. Genauso, wie heute die NATO wieder zögert, die Ukraine aufzunehmen, hat sie auch die Aufnahme etlicher neuer NATO-Staaten zögernd und verhalten akzeptiert und nicht gefördert oder angetrieben.

Das Argument des russischen Führers und seiner Satrapen im Land, Russland werde von Ländern wie Rumänien oder Polen bedroht, ist lächerlich, das weiß jeder. Angesichts des großen Atomwaffenlagers Russlands kann niemand das Land angreifen, ohne potenziell Selbstmord zu begehen.

In der Stellvertreterthese steckt auch eine Gleichsetzung der USA mit Russland. Beide werden als imperialistische Mächte und als wesensgleich angesehen. Das hat seit mindestens fünfzehn Jahren, seit der massiven Etablierung der russischen Diktatur, nichts mit der Realität zu tun. Russland ist heute zehnmal schlimmer, als es die USA je waren. Russland ist eine faschistische Diktatur, in der die Bürger- und Menschenrechte nicht mehr existieren, in der systematisch von Polizei, Geheimdienst und Armee gefoltert wird, die nach außen mörderische und auf Genozid zielende Kriege betreibt und das Leben der Menschheit durch Atombombendrohungen gefährdet. Die heutigen USA und Russland unterscheiden sich wie Feuer und Wasser, die USA sind noch immer eine der ältesten Demokratien und waren nie Diktatur, während Russland jegliche historische Erfahrung mit Demokratie, Aufklärung und Menschenrechten fehlt.

Häufig wird von den Theoretikern vom Stellvertreterkrieg auch ganz offen gelogen. So wird zum Beispiel behauptet, die Regierung der Ukraine wolle durch einen großen Krieg zwischen den beiden imperialistischen Mächten ihre Unabhängigkeit verteidigen, und zwar vom ersten Tag des Krieges mit Russland an, was nicht nur eine komplette Verdrehung der Tatsachen ist, sondern auch von einer tiefsitzenden, pathologischen Bindung an Russland zeugt, die auf die Ewigkeit ausgerichtet ist und die so hart und permanent ist, dass Russland machen kann, was es will und jede noch so diktatorische Struktur annehmen kann – an dieser zweifellos psychoanalytisch zu erforschenden Liebe zu diesem Land ist bei den entsprechend verblendeten Theoretikern nicht zu rühren. Leider kann diese Emotion nur eine logische Konsequenz haben – so stark wie die Liebe zu Russland ist gleichzeitig der abgrundtiefe Hass auf die Ukraine, der in solchen Aussagen zum Ausdruck kommt. Dagegen muss immer wieder darauf hingewiesen werden, dass Russland seit mindestens hundert Jahren die Ukraine unterdrückt hat, zum Beispiel durch den gezielten Hungertod von drei Millionen Menschen in den 30er Jahren, und dass es im Gegensatz zu vielen falschen Darstellungen die Ukrainer/innen waren, die relativ zu ihrer Bevölkerungszahl die Hauptlast des Zweiten Weltkriegs getragen haben, nicht die Russen.

Auch die These vom Stellvertreterkrieg in der Ukraine entspricht in wesentlichen Punkten – wie viele andere falsche Darstellungen – dem, was der russische Führer und seine Gefolgsleute über den Krieg behaupten. Immer wieder zeigt sich, dass die Solidaritätsverweigerer in Deutschland nicht nur gegen die Unterstützung der Ukraine auftreten, sondern auch die Aussagen der Aggressoren und Massenmörder aus Russland mittragen, hier und da etwas relativiert, aber insgesamt kongruent. Faktisch machen sie sich dadurch selbst zu ideologischen Stellvertretern der schlimmsten Kriegspartei der Gegenwart.

Literatur: Timothy Snyder, Der Weg in die Unfreiheit. Russland, Europa, Amerika, München 2022; Anne Applebaum, Roter Hunger. Stalins Krieg gegen die Ukraine, München 2017; Volkhard Mosler, Was ist ein Stellvertreterkrieg?, in: Marx21, Heft 2/2023, S. 46-52.

Dr.HeinzArnold

Abitur in Biedenkopf/Lahn, Studium Anglistik, Politik, Geografie, Philosophie, Soziologie, Pädagogik an den Universitäten Heidelberg und Marburg/Lahn, Promotion Dr. rer. pol. Universität Kassel, Lehraufträge in Geografie und Politik an den Universitäten Trier und Kassel, zahlreiche Buch- und Zeitschriftenveröffentlichungen in Politik, Soziologie und Geografie, in der politischen Linken aktiv seit 1968. Bücher u.a.: Linke Politik - eine kritische Einführung, Hamburg 2020; Gesellschaften, Räume, Geografien, Trier 1997; Disparitäten in Europa: Die Regionalpolitik der Europäischen Union - Analyse, Kritik, Alternativen, Basel/Boston/Berlin 1995; Saar-Lor-Lux/Trier-Westpfalz/Wallonie - Strukturen und Perspektiven einer Europäischen Großregion, Trier 1998; Soziologische Theorien und ihre Anwendung in der Sozialgeografie, Kassel 1988; Aldous Huxley, Brave New World, Berlin 2005 (Hrsg.); Lektüreschlüssel George Orwell, Animal Farm, Stuttgart 2011

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