Der russische Faschismus hat wie jede politische Theorie ein besonders grundlegendes Axiom, also eine Annahme, die einfach gesetzt wird und die nicht bewiesen werden kann oder muss. Das ist die hundertprozentige Unschuld des russischen Volks, was immer passieren mag und um was es auch immer gehen könnte und kann. Diese Unschuld gilt räumlich und zeitlich unbegrenzt, also überall und zu allen Zeiten; Russland war es immer, ist es heute und wird es immer sein: unschuldig. Es ist auf der Erde unschuldig und auf dem Mond, im Weltall und auf dem Mars, wenn ihn der erste Russe erreichen sollte.
Dieses Total-Axiom beruht bei den faschistischen Theoretikern wie Dugin oder Iljin auf einer quasi religiösen Idee, konkret historisch aber auf dem deutschen Angriff von 1941 – ab diesem Moment konnte Russland nur noch unschuldig sein. Diese Terminierung hat eine gewisse historische Logik, denn die UdSSR hatte bekanntlich zusammen mit dem faschistischen Dritten Reich 1939 den Zweiten Weltkrieg begonnen, mit dem gemeinsamen Versuch, Polen zu beseitigen, einem eindeutigen Völkermord. Für dieses riesige politische Verbrechen kann Russland keine Unschuld postulieren, dazu ist die Faktizität vor aller Welt einfach zu stark. Aber als die Kooperation der beiden europäischen Großmächte, die den Zweiten Weltkrieg lostraten, mit dem deutschen Angriff auf die UdSSR endete, konnte sich das Land als Gegner des Faschismus und Verteidiger der Menschheit und des Friedens darstellen, obwohl es das faktisch nie gewesen ist. Hier begann der Große Vaterländische Krieg, die Verteidigung des Volks, das ab diesem Augenblick unschuldig und Opfer war und von da an immer im Recht sein würde, während alle anderen im Unrecht waren, was auch immer geschah.
Russland war unschuldig, als sich die Rotarmisten an den Deutschen rächten. Als sie über zwei Millionen deutsche Frauen vergewaltigten und 220.000 deutsche Frauen ermordeten. Als die UdSSR Ost- und Mitteleuropa ab 1945 ihre brutale und primitive Diktatur aufzwang, nachdem sie diese Länder ausgeplündert und ausgeraubt hatte. Als sie die Aufstände und den Widerstand gegen diese unmenschlichen Systeme niederschlug, zum Beispiel 1953 in der DDR, 1956 in Ungarn und Polen, 1968 in der CSSR, 1980/81 wieder in Polen. Als sie 1979 Afghanistan überfiel, um dort ihre Diktatur zu errichten. Auch bei der von der UdSSR ohne Grund provozierten Kubakrise von 1962 war sie natürlich unschuldig und Opfer. Schließlich musste sie sich durch taktische Atomwaffen, die man heimlich auf Kuba stationiert hatte, gegen einen möglichen Überfall durch die USA vorbeugend schützen.
Sicherlich war es stets typisch für faschistische und diktatorische Regime, die zugleich Angriffskriege betrieben, also von Massenmördern als Politikern gelenkt wurden, alle anderen als Schuldige zu bezeichnen. Überfälle auf andere Länder wurden als Verteidigung oder Notwehr dargestellt; wenn sich ein Land gegen einen Angriff wehrte, wurde es als Aggressor bezeichnet oder es wurde behauptet, seine Regierung oder sein Volk seien irregeleitet, manipuliert oder minderwertig.
Die Absicht, ganze Länder zu vernichten, ist nicht neu. Der Hitlerfaschismus und die Stalindiktatur waren sich einig, Polen zu zerstören. Heute sind die russischen Faschisten sicher, dass die Ukraine vernichtet werden muss. Sie sagen, es gibt gar keine Ukraine und keine Ukrainer/innen, es gibt nur Russland und Russen. Die Vernichtung der Ukraine ist nichts Besonderes, sie muss sein, denn sie verhindert, dass sich Russland im Osten voll entfalten kann. Natürlich sind alle Handlungen zur Beseitigung der Ukraine unschuldig, denn sie gehören in die Tradition des Großen Vaterländischen Kriegs, der von allen Russen gemeinsam durchgeführt wurde und diese Tradition steht für ewige Zeiten für die unbegrenzte und totale Unschuld der Russen.
Zurzeit ist Russland militärisch in vielen Ländern aktiv und sorgt für deren Destabilisierung, z. B. in Georgien, Moldawien, Syrien. Extrem aktiv ist es in der Ukraine. Hier wird gemordet und gefoltert, hier werden Tausende Zivilisten und Kinder gezielt ermordet, hier tobt der härteste Krieg dieser Tage. Hier überträgt Russland seine faschistische Diktatur im Inland auf fremdes Staatsgebiet. Russland ist heute gekennzeichnet durch die politische Herrschaft der Faschisten, durch Folter und Diktatur, gesichert durch Polizei, Armee und Geheimdienste. Die Bürgerrechte sind komplett beseitigt, von Rechtsstaatlichkeit ist keine Spur mehr. Medien und Politiker überbieten sich beim Lügen und Manipulieren, sodass die Wahrheit in diesem Land in der Öffentlichkeit keine Rolle mehr spielt. Natürlich wurde schon in der UdSSR massiv und sehr oft und teilweise aufwendig gelogen – über die Moskauer Prawda, Zentralorgan der KPdSU hieß es: Die Prawda lügt so sehr, dass nicht einmal das Gegenteil wahr ist – aber heute bewegt sich Russland insgesamt in einem wahrheitsfreien Raum. Was kein Problem, sondern Kernbestandteil des Faschismus ist. Russland ist unschuldig und darf das alles.
Als nach 1945 in Deutschland die Bürger auf ihr Mitwirken im NS-Staat überprüft wurden, gab es für sehr viele irgendwann einen “Persilschein”. Der hatte nichts mit dem Waschmittel zu tun, sondern war ein Dokument einer lokalen Behörde, mit dem einem Deutschen bescheinigt wurde, dass er im faschistischen Dritten Reich keine beachtenswerten Untaten begangen hatte und nicht bestraft werden würde; irgendwann kamen die Ämter und die Alliierten zu der Einschätzung, dass sie mit dieser Überprüfung einfach überfordert waren. Einen solchen, riesigen Persilschein hat sich Russland mit dem Unschulds-Axiom der faschistischen Theoretiker ausgestellt, aber nicht nur im Nachhinein, sondern auch im Voraus, für alle noch folgenden Morde, Folterungen, Verbrechen, Unterdrückungen und Kriege, die das Land noch führen wird, den Atomkrieg eingeschlossen, und natürlich für alles, was heute passiert und was seit dem Februar 2022 geschieht. Diese Unschuld ist reinste Ideologie. Ihre Basis sind Gewehrkugeln, Panzerkanonen und Bomben, von denen jede einzelne dunkelrot sein müsste, voller Schande und voller Schuld, die zu sühnen ist. Russland ist nicht frei von Schuld, sondern von jeglicher Unschuld. Der Großmachtchauvinismus ist seine tiefste, unabtragbare Schuld im 21. Jahrhundert.
Literatur: Timothy Snyder, Der Weg in die Unfreiheit. Russland, Europa, Amerika, München 2019; Oksana Timofejewa, Butscha ist ein Spiegel. Die apokalyptischen Träume des Imperiums im Bluttheater des Krieges, in: Lettre International 139, 2022, S. 16-19.