Allgemein

Buch der Woche: Loblied auf die Anpassung

Philipp Staab, Anpassung. Leitmotiv der nächsten Gesellschaft, Berlin 2022, 240 Seiten, € 18,50. Staabs Buch enthält 6 Kapitel und diskutiert Kernfragen der Lebensweise in Gegenwart und Zukunft der bestehenden Gesellschaft. In der Einleitung wird eine Gesamtübersicht geboten, durch die Beschreibung von historischen und aktuellen Metamorphosen der Anpassung. Kapitel 2 beschreibt die Veränderungen von der Selbstentfaltung als progressivem Prinzip der Moderne zur Selbsterhaltung, die als Maxime der heutigen, zutiefst kriselnden Spätmoderne vorgeschlagen und untermauert wird. Der Autor fühlt sich dieser Perspektive aufgrund einer Analyse der Moderne verpflichtet, die diese als Ent-Täuschung zerlegt und entlarvt (Kapitel 3). Im 4. Kapitel wird der Versuch unternommen, Anpassung in gewisser Weise auch als Rebellion zu verstehen, wobei in Anknüpfung an Robert K. Merton Anpassung neben anderem auch als Praxis eines kollektiven Aufbruchs interpretiert wird. Das fünfte Kapitel lässt Gruppen und Subjekte der Anpassung im Originalton zu Wort kommen, insbesondere im Kontext der Coronakrise, und erläutert dabei, dass die Demokratie nur noch dann als freiheitliche fortbestehen kann, wenn sie sich von der Selbstentfaltung als oberstem Motto verabschiedet, zugunsten kollektiver und individueller Selbsterhaltung. In Kapitel 6 verdeutlicht Staab sein Verständnis von protektiver Technokratie, unter Bezug auf konservative Gedanken von Max Weber, aber auch auf explizit konservative Denker wie Helmut Schelsky. Insgesamt gibt der Autor die Erderwärmung, Wachstumskrisen und subjektive Überlastungen als Hauptfaktoren an, die den Optimismus der Moderne nunmehr erschüttert hätten. Grenzenlose Emanzipation sei nicht mehr möglich und nicht mehr sinnvoll; die Gesellschaft der Zukunft muss sich in erster Linie mit der Stabilisierung ihrer prekär gewordenen Ordnung befassen, und das geht nur, wenn die Selbstentfaltungstendenz von einer Selbsterhaltungstheorie und -praxis abgelöst wird.

Grundsätzlich klingt es ganz vernünftig und vielleicht auch logisch, angesichts der Krisenhäufungen auf dem Planeten etwa seit dem Jahr 2000 auf weiterreichende Ziele und Vorstellungen über mehr Freiheit und Lebensglück der Menschen kritisch zu schauen und Ansprüche etwas zurückzuschrauben. Zu den genannten Hauptfaktoren eines Pessimismus kommt schließlich noch die stärker gewordene politische Regression hinzu, der Aufstieg von Diktaturen und faschistischen Regimen und die Wahlgewinne rechter und rechtsextremer Parteien, sodass sich insgesamt ein negatives Bild für die Entwicklung von Umwelt, Wirtschaft, Arbeitswelt und Politik ergibt. Seltsamerweise ist von dieser Regression bei Staab keine Rede. Das ließe sich dadurch entschuldigen, dass das Buch von der Gesellschaft mit dem wesentlichen Aspekt der Lebensführung handelt, nicht vom politischen System, es bietet keine politische Soziologie, dafür ist der Verfasser nicht qualifiziert. Aber damit entsteht zugleich ein Problem der Darstellung und auch der Reflexion. Offensichtlich ist der Autor nicht in der Lage, seine eigene Theorie als Soziologe politisch zu reflektieren – denn der Vorschlag, die Selbstentfaltung als Prinzip der Moderne zu den Akten zulegen und für die Zukunft nur noch auf die deutlich bescheidenere Selbsterhaltung, also die Sicherung des Überlebens von Menschheit und Gesellschaft, zu setzen, ist selbst ein massiver Schritt in Richtung Regression. Es ist ein gewaltiger Rückschritt, sich von Emanzipation und Freiheitserweiterung, den Zielen der Aufklärung, zu verabschieden und stattdessen Stabilität und Erhalt von Menschheit und Gesellschaftssystem anzustreben – Fortschritt in sozialer, kultureller und ökonomische Hinsicht wird dann für unmöglich bzw. sinnlos erklärt. Das nenne ich eine Regression; es ist nicht nur ein Zurückweichen vor den Krisen und vor den Rechten und Reaktionären, es ist ein theoretischer und praktischer Begriffsleitfaden für Rückschritt und Resignation.

Der Autor verweist zum Beispiel Konsumboykotts, Recycling, den politischen Druck sozialer Bewegungen und Friedensaktivismus ins Reich der Vergangenheit, das Leitmotiv der kommenden Gesellschaft ist die Selbsterhaltung, nicht mehr Fortschritt, Emanzipation oder individuelle Freiheit. Inhalte der Selbsterhaltung sind insbesondere der Schutz von Leben, die gesellschaftliche Vernetzung und Abhängigkeiten sozialer Art. Die adaptive Gesellschaft leitet sich teilweise auch aus einer der tragenden sozialen Bewegungen dieser Tage her – sie gründet auf der generellen Arbeit von #Fridays for Future, in deren Fokus ja die Erhaltung der Erdtemperatur und der vorhandenen Erdoberflächenstrukturen steht, also eindeutig eine Erhaltungsbewegung, als vermutlich stärkste und größte politische Bewegung der Gegenwart, weltweit. Und diese Bewegung ist, ähnlich wie die gesamte politisch-staatliche Arbeit mit der Coronakrise, an einer Entpolitisierung von Technik und Wissenschaft orientiert; beide Komplexe waren stets darauf aus, die Äußerungen von Wissenschaftlern bzw. einer großen Mehrheit von Wissenschaftlern unbedingt und unhinterfragt gelten zu lassen. Das führt Staab zu der Feststellung, dass die protektive Technokratie als Subjekt, letztlich zusammen mit den Avantgardegruppierungen der Anpassung, den neuen Gesellschaftsvertrag der kommenden bzw. schon teilweise existierenden adaptiven Gesellschaft, des Systems der Anpassung, fundieren.

Dass diese Konzeption in etlichen Aspekten in sich unlogisch und widersprüchlich ist – wenn etwa behauptet wird, es ginge um eine neutrale Analyse von Anpassung oder wenn Anpassung als Rebellion definiert wird – ist vielleicht nicht entscheidend, soweit sie zu kritisieren ist; immerhin bezeugen diese Widersprüche die Problematik einer solchen theoretischen Regression im soziologischen Denken. Relevanter erscheinen mir alle Fragen danach, was ein solches Verständnis oder besser gesagt, eine solche soziologisch formulierte Ideologie für Folgen zeitigen wird, wenn sie von anderen Gesellschaftswissenschaftlern akzeptiert oder unterstützt wird. Wie alle postmodernen oder nachmodernen Konzeptionen von Gesellschaft läuft dieser Ansatz auf die Denkstrukturen der Vormoderne hinaus. Die zentralsten Begriffe und Ziele der Moderne werden negiert und für verfehlt erklärt, die Freiheitsbestrebungen und Emanzipationsabsichten der Menschen für überholt oder unpassend erklärt und durch einen Anpassungskomplex ersetzt, der – wie man es auch dreht und wendet – zurück geht ins Mittelalter und die Subjekte tendenziell zu Objekten erklärt. Diese Objekte sind sie aber nicht tatsächlich, nicht mehr, das wissen wir seit über 400 Jahren, seit jener Zeit, als sie sich vergewisserten, durch ihr neues, emanzipationsgeleitetes Denken und Handeln, dass sie ihre Selbstentfaltung kontinuierlich erweitern konnten, dabei immer auf der grundlegenden Selbsterhaltung basierend.

Diese historische Kritik an Staabs Konzept ist zu ergänzen durch ein im Kern soziologisches Argument. Nimmt man sich nur eins der großen Krisenprobleme der Gegenwart vor, die Erderwärmung, dann wird evident, dass dieses von einem konservativen Standpunkt der Erhaltung der Umwelt als Inhalt nicht lösbar ist. Um es zu lösen, reichen quantitative und qualitative Festlegungen sämtlicher Regierungen der Welt nicht aus. Entscheidend wird sein, die wirklichen Umweltzerstörer und CO2-Produzenten in der Ökonomie, die multinationalen und die großen Konzerne so zu transformieren bzw. zu entmachten, dass diese ihre Umweltzerstörung einstellen, weil das Profitmotiv im Umgang mit der Natur abgeschafft wird, zum Beispiel durch Kommunalisierung, Vergenossenschaftlichung oder Eigentumsübernahme durch die Angestellten der Konzerne. Das kann nicht durch Beschlüsse von Regierungen umgesetzt werden, dafür braucht es ein elaboriertes, massives Konzept von Politik und politischen Bewegungen, das an die erweiterten Begriffe von Freiheit, Gleichheit, Emanzipation und Entfaltung des Humanen und Individuellen anknüpft, die von der klassischen Moderne geschaffen und perpetuiert wurden, insbesondere von den sozialen und intellektuellen Bewegungen, die sich gegen die Beharrungs- und Erhaltungskräfte dieser Moderne richteten und dabei um jeden kleinen Fortschritt kämpfen mussten und müssen. Mir erscheint es evident, dass Staabs Position für Erhaltung und gegen Entfaltung in den regressiven Kontext dieser Strukturen gehört, historisch und aktuell. Wenn sich die Gesellschaft der Zukunft Anpassung als Leitmotiv gibt, bewegt sie sich zurück in Richtung Mittelalter und wird noch weitaus unfähiger sein, ihre großen Probleme zu lösen, als es für den aktuellen Krisenkapitalismus gilt. Anpassung in diesem Sinn bedeutet mehr Diktatur, mehr soziale Ungleichheit, mehr Kriege, mehr Unwissen, mehr unreflexive Technokratie und nicht zuletzt mehr Naturzerstörung. Ein solcher Zukunftsentwurf ist eigentlich eine Dystopie, keine wissenschaftliche Analyse. Weiterhin ist es kein gutes Zeichen für den Stand der Soziologie, wenn sie es nicht mehr schafft, die Totalität des Systems zu untersuchen, obwohl sie mit dem Gesellschaftsbegriff hantiert; hier wird Gesellschaft auf Lebensführung reduziert, ein wahrhaft ideologisches Unterfangen. Literatur: Gerhard Hauck, Geschichte der soziologischen Theorie. Eine ideologiekritische Einführung, Reinbek 1984; Gregory Claeys, Ideale Welten. Die Geschichte der Utopie, Darmstadt 2011.

Dr.HeinzArnold

Abitur in Biedenkopf/Lahn, Studium Anglistik, Politik, Geografie, Philosophie, Soziologie, Pädagogik an den Universitäten Heidelberg und Marburg/Lahn, Promotion Dr. rer. pol. Universität Kassel, Lehraufträge in Geografie und Politik an den Universitäten Trier und Kassel, zahlreiche Buch- und Zeitschriftenveröffentlichungen in Politik, Soziologie und Geografie, in der politischen Linken aktiv seit 1968. Bücher u.a.: Linke Politik - eine kritische Einführung, Hamburg 2020; Gesellschaften, Räume, Geografien, Trier 1997; Disparitäten in Europa: Die Regionalpolitik der Europäischen Union - Analyse, Kritik, Alternativen, Basel/Boston/Berlin 1995; Saar-Lor-Lux/Trier-Westpfalz/Wallonie - Strukturen und Perspektiven einer Europäischen Großregion, Trier 1998; Soziologische Theorien und ihre Anwendung in der Sozialgeografie, Kassel 1988; Aldous Huxley, Brave New World, Berlin 2005 (Hrsg.); Lektüreschlüssel George Orwell, Animal Farm, Stuttgart 2011

You may also like...

Leave a Reply

Your email address will not be published. Required fields are marked *