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NATO-Osterweiterung?

Schon 1994 hat der russische Führer seine Zukunftsperspektive für das neue Russland dargelegt: Er fand es erstrebenswert, das Land nach dem Vorbild der Pinochet-Diktatur in Chile umzugestalten. Damit war er, das muss leider gesagt werden, erfolgreich. Und es ist nicht absehbar, dass die heutige russische Bevölkerung dagegen etwas unternehmen wird. Die Wenigen, die das versuchten, sind tot oder eingesperrt, verurteilt von willfährigen faschistischen Richtern, Führerknechten in der Tradition von Stalins Säuberungen, also eiskalten und von stalinistischen Justizgangstern verordneten Morden. Und etliche haben das Land, in dem der Faschismus unserer Tage herrscht, verlassen, weil sie das politische und gesellschaftliche Elend nicht mehr sehen wollen. Zurzeit geht es um den NATO-Beitritt von Schweden und Finnland, den einer der letzten Freunde des russischen Führers, der türkische Führer, gerne verhindert hätte. Eine Gelegenheit, den Begriff der NATO-Osterweiterung kritisch zu betrachten.

Begriff und Thema sind wie viele andere untaugliche Wörter Erfindungen des russischen Führers. Denn die Länder Osteuropas, die nach 1990 der NATO beitraten, wurden nicht von dieser angeworben oder zum Beitritt animiert. Sie wollten sich aufgrund der langjährigen und verhängnisvollen Erfahrungen mit der benachbarten aggressiven Großmacht – einst als Zarenreich, dann als Sowjetunion und schließlich als Russland – vor dieser imperialen und brutalen Macht schützen und haben allesamt darauf gedrängt, möglichst schnell Mitglied der NATO werden zu können. Der Begriff der NATO-Osterweiterung unterstellt aber, dass die NATO diese Staaten motiviert und bearbeitet hätte, ihr Mitglied zu werden. Dadurch wird er zur Lüge, zu einer der frechsten und dümmsten Lügen des russischen Führers, mit der er seinen Überfall auf die Ukraine erklären wollte. Es ist durchaus denkbar, dass einige dieser Länder heute genauso zerstört würden wie die Ukraine oder schon zerstört wären, hätten sie diesen Beitritt nicht rechtzeitig vollzogen.

Es schwirren auch immer wieder Behauptungen durch die Medien, es hätte nach der Wende von 1990 Zusagen gegeben, die NATO aufzulösen, sobald der Warschauer Pakt sich auflöse. Und es hätte Absprachen gegeben, die NATO nach 1990 nicht durch osteuropäische Länder zu erweitern. Es gibt für diese Hypothesen leider keine Beweise, keine Dokumente, keine Tonaufnahmen, nichts. Es gibt eine Äußerung von Gorbatschow, dass solche Absprachen nicht vorgenommen wurden. Schriftlich liegt dazu nichts vor. Damit steht fest, dass derartige Vereinbarungen real nicht existent sind.

Vor diesem Hintergrund ist für mich das Verständnis vieler Politiker, gerade im Bereich der Linken, für das heutige faschistische Russland, seinen faschistischen Führer und seine toxische Bevölkerung, die das Land und seine Institutionen dem Faschismus überlässt oder diesen unterstützt, unbegreiflich. Wie kann es sein, dass ein Zentralbegriff des russischen Führers, mit dem er den brutalen Angriff auf die Ukraine, den Massenmord an Zivilisten und Kindern begründet, von Menschen in Deutschland vollständig im Sinn der Definition durch den russischen Führer verwendet wird? Ist ihnen nicht klar, dass sie damit diesen Massenmord unterstützen? Dass sie damit die westlichen Staaten zu dem Hauptverursacher des unfassbaren Kriegs Russlands gegen die Ukraine machen? Ich möchte Menschen, die in diesem Konflikt nach wie vor auf der Seite des russischen Faschismus stehen, mit einer Liste von Vorfällen zum Nachdenken anregen. Das sind jene Ereignisse, die tatsächlich die NATO um etliche Länder Osteuropas vergrößerte, und zwar weil sie dringend von sich aus Mitglied werden wollten, aus Angst vor Russland. Der Überfall auf die Ukraine beweist, wie berechtigt diese Angst war. Und vermutlich wird die Ukraine am Ende nur dann in Frieden leben können, wenn sie ebenfalls Mitglied der NATO wird, neben einem Russland, das sich um seine inneren Probleme kümmert, nicht um Dinge jenseits seiner ausreichend ausgedehnten imperialen Grenzen.

Das sind nur einige der wirklichen Gründe im Handeln von UdSSR und Russland für die sogenannte NATO-Osterweiterung:

  • Der Holodomor in der Ukraine 1930-31 als versuchter Völkermord an der Ukraine durch Aushungern
  • Die Stalinschen “Säuberungen”, also Morde an KP-Mitgliedern und Millionen Bürgern 1936-38
  • Der Überfall auf Finnland 1939
  • Die enge Zusammenarbeit mit dem faschistischen Hitlerdeutschland 1939-41, Zweck: Zerstörung Polens
  • Beginn des Zweiten Weltkriegs zusammen mit Hitlerdeutschland, durch den gemeinsamen Überfall auf Polen 1939
  • Übernahme der baltischen Staaten durch Stalin 1940
  • Errichtung pseudosozialistischer, brutaler Diktaturen in Mittel- und Osteuropa 1945-50
  • Kommunistischer Putsch in der Tschechoslowakei 1948
  • Niederschlagung der Massenproteste in der DDR 1953
  • Invasion in Ungarn gegen die enormen Reformkräfte 1956
  • Große Invasion in der CSSR gegen die Massenreformbewegung 1968
  • Invasion in Afghanistan 1979
  • Errichtung der Notstands-Diktatur in Polen 1980/81
  • Niederschlagung von Revolten im Baltikum 1988/89
  • Gezielte Provokationen und ein Krieg gegen Georgien, als das Land sich nach 1990 der EU zuwandte

Die Liste könnte ich beliebig fortsetzen. Die Sowjetunion und Russland setzen bis heute eine abstoßende und ekelhafte Tradition fort, den russischen Großmachtchauvinismus, der 2022 mal wieder in einen extrem brutalen Krieg mündete und noch aus zaristischen Zeiten stammt. Zu keiner Zeit hat im russischen Bereich eine Vergangenheitsbewältigung stattgefunden, so wenig wie jemals die Aufklärung in der Gesellschaft eine relevante Rolle gespielt hätte. Russland ist noch immer ein Land mit vordemokratischen, autoritären, intoleranten und aggressiven Mustern und Verhaltensweisen, extrem manipuliert durch die staatlichen Medien, wobei die Unfähigkeit zur Kritik der herrschende rote Faden aller Denk- und Handlungsweisen ist. Russland will Europa und Asien russifizieren, es ist eine blutige Diktatur, es greift andere Länder ohne jeden Grund an, es bricht alle internationalen und bilateralen Verträge, sein Rechtsstaat ist zerbrochen, die Wahlen werden systematisch gefälscht, die Medien propagieren mehr Lügen als Wahrheiten und sein gesamter staatlicher Apparat ist in den Händen von Faschisten.

Das sind die Tatsachen. Manche mögen es bedauern, aber es ist heute Fakt: Russland ist im Innern und nach außen ein weitaus aggressiveres, imperialistischeres und diktatorischeres Land als die USA! Das kann niemand bestreiten und deshalb verbietet es sich, in irgendeiner Form mit dem Argument gegen die Politik der USA zu kämpfen, demgemäß sie die übelste Großmacht des Planeten seien. Das sind sie jedenfalls heute nicht, diese übelste, schmutzigste und mörderischste Großmacht ist heute Russland, niemand sonst. Wer heute gegen Diktatur, Unterdrückung, Faschismus, Krieg und Manipulation ist, muss sich auf der Ebene der Staaten an erster Stelle gegen Russland stellen. Wer das nicht tut und wie die Wagenknechts, Schwarzers und viele andere für russische Interessen eintritt, steht auf der Seite jener, die die Menschlichkeit und die Menschheit verraten. Sie haben nicht das Geringste mit linker Politik zu tun.

Literatur: Timothy Snyder, Der Weg in die Unfreiheit. Russland, Europa, Amerika, München 2018; Gesine Dornblüth/Thomas Franke, Jenseits von Putin. Russlands toxische Gesellschaft, Freiburg i. Br. 2023; Daniel Jonah Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust, Berlin 2012; Anne Applebaum, Der Eiserne Vorhang. Die Unterdrückung Osteuropas 1944-1956, München 2012.

Dr.HeinzArnold

Abitur in Biedenkopf/Lahn, Studium Anglistik, Politik, Geografie, Philosophie, Soziologie, Pädagogik an den Universitäten Heidelberg und Marburg/Lahn, Promotion Dr. rer. pol. Universität Kassel, Lehraufträge in Geografie und Politik an den Universitäten Trier und Kassel, zahlreiche Buch- und Zeitschriftenveröffentlichungen in Politik, Soziologie und Geografie, in der politischen Linken aktiv seit 1968. Bücher u.a.: Linke Politik - eine kritische Einführung, Hamburg 2020; Gesellschaften, Räume, Geografien, Trier 1997; Disparitäten in Europa: Die Regionalpolitik der Europäischen Union - Analyse, Kritik, Alternativen, Basel/Boston/Berlin 1995; Saar-Lor-Lux/Trier-Westpfalz/Wallonie - Strukturen und Perspektiven einer Europäischen Großregion, Trier 1998; Soziologische Theorien und ihre Anwendung in der Sozialgeografie, Kassel 1988; Aldous Huxley, Brave New World, Berlin 2005 (Hrsg.); Lektüreschlüssel George Orwell, Animal Farm, Stuttgart 2011

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