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Konsumverzicht?

Seit Jahrzehnten wird Konsumverzicht von manchen Linken als großer Fortschritt für eine solidarische und nachhaltige Gesellschaft propagiert. Ausgehend von einer Kritik am Wachstum werden Vorteile von Konsumkritik und -verzicht dargestellt, die insbesondere naturschonend und moralisch besser erscheinen als die Realität des Kapitalismus. Die entsprechenden Appelle richten sich an die normalen Bürger/innen und werden zum Beispiel von Veganern/innen und Wachstumskritikern/innen unterstützt. Angesichts des verbreiteten Übergewichts, der unzähligen Schlechtprodukte mit Billigpreisen (meistens aus der chinesischen Diktatur importiert) und der geplanten Nichthaltbarkeit von technischen Artikeln wie Waschmaschinen, Autos und anderen scheint diese Forderung nach weniger Konsum ganz vernünftig. Sie könnte wirtschaftlich und gesundheitlich positive Folgen haben und wäre insofern natürlich förderungswürdig.

Aus ökonomischer Perspektive stellt sich dabei die Frage, ob eine Umstellung des Angebots auf gesündere Ernährung und länger haltbare und hochwertigere Produkte tatsächlich ein schwächeres Wachstum oder einen Rückgang der Ökonomie zum Resultat haben müsste. Meiner Einschätzung nach muss das nicht der Fall sein, denn wenn das Angebot an Produkten und Dienstleistungen tatsächlich in diese Richtung erneuert und transformiert würde, wäre ein Preisanstieg für die höhere Qualität normal und die Wirtschaftsleistung würde nicht zurückgehen. Es würde zu keinem wirklichen Konsumverzicht kommen, sondern zu einem Verschwinden schädlicher und minderwertiger Produkte und Leistungen – insofern kann die Maxime vom Konsumverzicht sinnvoll sein, als Verzicht auf Negatives bei gleichzeitiger Zunahme des Positiven, in Bezug auf Gesundheit und Nachhaltigkeit. Wir wissen schon jetzt, dass gesunde Lebensmittel teurer sind als schädliche und dass taugliche und haltbare Industrieprodukte genauso wie entsprechende Dienstleistungen mehr kosten als das billige Zeug, für das wir oft genug Geld verschwenden.

Mit Blick auf die Klassen- und Sozialstruktur stellt sich die Frage, ob die sozial schwächeren Gruppierungen diese Umstellung mittragen könnten oder ob sie noch mehr abgehängt würden, als es jetzt schon geschieht, trotz aller Billigangebote, die nichts taugen. Die Antwort kann nur lauten: Prekäre Arbeit, niedrige Lohngruppen, unzureichender Mindestlohn und alle Faktoren, die die Existenz einer Unterschicht verursachen, müssten gleichzeitig mit einer Umstellung der gesamten Wirtschaft auf Gesundheit und Nachhaltigkeit abgeschafft werden, das heißt, es muss für alle ein ausreichendes und tragfähiges Einkommen geben – dafür gibt es nach meinem Ermessen nur eine Lösung: das bedingungslose Grundeinkommen für alle Bürger eines Landes; übrigens wäre gerade die Umstellung auf höherwertige Produkte mit höheren Preisen eine wesentliche Quelle für die steuerliche Finanzierung dieses Grundeinkommens, denn höhere Preise bringen gewöhnlich höhere Gewinne, sodass die staatlichen Steuereinnahmen steigen. Natürlich bedeutet eine solche Umstellung auch einen erheblichen Verwaltungsaufwand, denn es müssen Qualitätskriterien für praktisch alle Produkte und Leistungen festgelegt werden, um die Standards umfassend anzuheben. Aber ich glaube nicht, dass die Administration in Deutschland, die schon heute extrem ausgreifende Potenziale besitzt, damit überfordert wäre.

Ein Konsumverzicht als anhaltender Verzicht auf ungesunde und wenig dauerhafte Produkte – in diesem Sinn wäre das eine sehr positive Entwicklung für die Umwelt, aber auch gegen die soziale Ungleichheit, wenn die Einkommen der unteren 50 Prozent der Gesellschaft gleichzeitig so angehoben und stabilisiert würden, dass diese Umstellung auf Gesundheit und Qualität für die gesamte Gesellschaft tragfähig wäre.

Leider sehe ich nicht, dass die Ideologien des Konsumverzichts so gemeint sind – ihnen geht es vorrangig darum, dass weniger Ressourcen verbraucht werden und die Menschen lernen sollen, zu verzichten. Die Natur soll geschont werden und die Menschen sollen demütiger und weniger anspruchsvoll sein. Polemisch ausgedrückt: Alle sollen arm bleiben, damit die Umwelt erhalten bleibt. Die Menschen sollen verzichten und sich im Rahmen der großen Mutter Natur freiwillig erniedrigen und erkennen, dass sie nichts Besonderes sind. Sie sollen rein wirtschaftlich betrachtet weniger Geld haben und weniger ausgeben. Das ist dann eben Konsumverzicht.

Diese Art von Verzicht bringt meiner Ansicht nach keinerlei Fortschritte. Sie entspricht nicht dem Wesen der Menschheit, die von Beginn an immer am Fortschritt orientiert war, im Detail wie in größeren Entwürfen, im Wissensbereich und in der Technik ebenso wie in der Gestaltung des Alltagslebens. Außerdem denke ich, dass Konsumverzicht in diesem Sinn von 95 Prozent der Menschen abgelehnt wird, und daran wird sich vermutlich nichts ändern. Es handelt sich um ein rückwärtsgewandtes, dummes Konzept von Zukunft, dem jede Attraktivität und jeder Bezug zur realen Welt fehlt. Und sicher ist jedenfalls, dass vor allem diejenigen, die die Natur weit überdurchschnittlich vernutzen und verschmutzen, die Reichen, niemals Konsumverzicht leisten werden. Die Konzeption vom Konsumverzicht ist insgesamt ein klassenspezifischer Aufruf an die Massen, die Naturzerstörung durch die nationalen und internationalen Oberschichten und -klassen zu kompensieren, denn an diese, die in erster Linie Verantwortlichen, wird kein besonderer Appell gerichtet.

Der Konsumverzicht hat aber noch einen weiteren Aspekt. Er war, wie wir spätestens seit Max Webers Analyse von Protestantismus und Puritanismus wissen, ein zentraler Verhaltensmotor für das Reichwerden in den früheren Phasen der Industrialisierung. Um reich zu werden, mussten Unternehmer, die neu gegründet hatten, zeit- und streckenweise auf Konsum verzichten und möglichst jeden Heller auf die Seite legen, um ihn in den weiteren Ausbau des Unternehmens zu investieren. Nur so konnten sie ihr Unternehmen aufbauen und weiter wachsen lassen – sie mussten zunächst in relevantem Umfang auf Konsum, auf das Geldausgeben verzichten, wenn sie später reich werden wollten. Teilweise wurde der Konsumverzicht im irdischen Leben auch als Eintrittsgebühr für den Zugang zum Himmelreich interpretiert, als religiöse Theorie, extra für Geldmenschen gedacht, die es verstanden, ihren Reichtum geschickt und religiös kaschiert zu verbergen oder zu verharmlosen. Es ist evident, dass auch diese Art von Konsumverzicht als generelles Prinzip für die moderne Gesellschaft nicht in Frage kommt – der kapitalistische Konsumverzicht ergibt keinen Sinn als Triebkraft für die weitere Entwicklung.

Insgesamt werden die pseudolinken genauso wie die kapitalistisch oder religiös motivierten Versionen von Konsumverzicht weder die Gegenwart noch die Zukunft besser machen. Wir brauchen eine Gesellschaft, in der auf Naturverschwendung und Billigprodukte verzichtet wird, zugunsten eines neuen, höheren Niveaus von allgemeiner Qualität, für Lebensmittel, Industrieprodukte und Dienstleistungen (ein Beispiel: Schulbildung), in direkter Verbindung mit der Überwindung von Armut und Unterschichtung. Wir müssen nicht auf Konsum verzichten, sondern auf falschen Konsum. Und wir müssen die Gesellschaft auf hohe Qualität umstellen, die sich alle leisten können. Die andere Seite dieser Medaille heißt logisch: Wir müssen die Gesellschaft auf gute Einkommen für alle umstellen, also die soziale Ungleichheit endlich als zentrales und entscheidendes Hindernis auf dem Weg in eine soziale, demokratische und ökologisch tragfähige Zukunft erkennen und überwinden.

Literatur: Bruno Kern, Das Märchen vom grünen Wachstum, Zürich 2019; Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, Erftstadt 2005; Naomi Klein, Warum nur ein Green New Deal unseren Planeten retten kann, Hamburg 2019; Hartmut Bossel, Globale Wende. Wege zu einem gesellschaftlichen und ökologischen Strukturwandel, München 1998; Albert T. Lieberg, Der Systemwechsel. Utopie oder existenzielle Notwendigkeit?, Marburg 2018; Andrew Sayer, Warum wir uns die Reichen nicht leisten können, München 2017; Franziska Heinisch, Wir haben keine Wahl. Ein Manifest gegen das Aufgeben, München 2021; David Harvey, Spaces of Hope, Edinburgh 2000.

Dr.HeinzArnold

Abitur in Biedenkopf/Lahn, Studium Anglistik, Politik, Geografie, Philosophie, Soziologie, Pädagogik an den Universitäten Heidelberg und Marburg/Lahn, Promotion Dr. rer. pol. Universität Kassel, Lehraufträge in Geografie und Politik an den Universitäten Trier und Kassel, zahlreiche Buch- und Zeitschriftenveröffentlichungen in Politik, Soziologie und Geografie, in der politischen Linken aktiv seit 1968. Bücher u.a.: Linke Politik - eine kritische Einführung, Hamburg 2020; Gesellschaften, Räume, Geografien, Trier 1997; Disparitäten in Europa: Die Regionalpolitik der Europäischen Union - Analyse, Kritik, Alternativen, Basel/Boston/Berlin 1995; Saar-Lor-Lux/Trier-Westpfalz/Wallonie - Strukturen und Perspektiven einer Europäischen Großregion, Trier 1998; Soziologische Theorien und ihre Anwendung in der Sozialgeografie, Kassel 1988; Aldous Huxley, Brave New World, Berlin 2005 (Hrsg.); Lektüreschlüssel George Orwell, Animal Farm, Stuttgart 2011

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