Der Palästinakonflikt beruht an erster Stelle auf den Massenmorden des Dritten Reichs und an zweiter Stelle auf dem historischen Versagen von Frankreich und England in dieser Region. Deshalb sind diese drei Länder die Hauptverantwortlichen für eine Lösung dieses Problems. Dieser Verantwortung sind sie bisher nicht gerecht geworden und es gibt keine Anzeichen, dass sie eine Lösung kennen oder vorbereiten. Das ist schlimm, muss aber nicht so bleiben, denn die Europäer haben das einzige Instrument zur einzig möglichen Lösung des Konflikts in der Hand, aber leider reicht ihr Horizont nicht so weit: die Europäische Union.
Die EU hat schon mehrfach bewiesen, dass sie durch den Aufnahmeprozess von Staaten deren zentrale Probleme gelöst und ihnen eine offene und demokratische Zukunft ermöglicht hat – zum Beispiel Griechenland, Spanien und Portugal in den 80er Jahren. Ihre halb- oder vollfaschistischen Diktaturen verschwanden im Rahmen des Beitrittsablaufs und die drei Länder sind bis heute demokratisch und friedlich geblieben.
Es gibt heute, das betonten viele Kenner der Region, keine reale Perspektive mehr für eine Zweistaatenlösung. Aber es gibt eine Chance, den Konflikt durch die starke Mithilfe der EU zu überwinden, nicht von heute auf morgen, aber vielleicht in acht oder zehn Jahren. Dafür müsste die EU sich zu einer Europäisch-Mediterranen Union erweitern, wie der große Mittelmeerforscher David Abulafia 2014 vorgeschlagen hat, etwa durch die Aufnahme nordafrikanischer Länder wie Tunesien und Marokko, als ersten Schritt. Und in diesem Rahmen könnte zugleich Israel zum Aufnahmekandidaten werden und in diesem Aufnahmeprozess dazu bewegt werden, einen Staat Israel aufzubauen, in dem Palästinenser und Israelis gleichberechtigt und in einer pluralistischen Demokratie leben können, ohne Gewalt und auf der Basis einer demokratischen Verfassung. Diese Transformation des heutigen Israel in einen israelisch-palästinensischen Staat als plurale Demokratie ist die einzige Lösung, die es geben kann, alle anderen Konzepte haben sich schon lange als ungeeignet erwiesen. Es muss ein Land werden, das starke föderale und kommunale Strukturen und Ebenen hat, das nicht zentralistisch regiert wird und in dem in jeder einzelnen Region deutliche Autonomie vorherrscht, sodass die verschiedenen Ethnien nicht voneinander getrennt, sondern gemeinsam leben, arbeiten und wohnen.
Eine solche liberale und demokratische, dezentrale Transformation des Landes schafft heute keine der beteiligten Mächte, weder die USA noch die arabischen Länder. Nur die EU kann eine solche Entwicklung in Israel und Palästina konzipieren, umsetzen und auf Dauer gewährleisten. Gerade die Bundesrepublik muss sich in der EU dafür besonders stark einsetzen, für den Weg von Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit in diesem Gebiet. Am Ende dieses Weges kann nur stehen, dass Israelis und Palästinenser in einem gemeinsamen Staat leben, der allen dieselben Möglichkeiten für ein gutes Leben in Frieden und Demokratie bietet.
Dass eine solche Zukunft trotz aller heutigen schrecklichen Vorgänge möglich werden kann und realistisch ist, zeigt Israel in seiner Gesamtheit schon lange. Im Land leben mehr als 20 Prozent Araber und sind ganz überwiegend friedlich und integriert. Es gibt Städte wie Nazareth und etliche andere, in denen mehrheitlich Araber wohnen und deren Leben durch ein normales und friedliches Miteinander bestimmt ist. Niemand soll behaupten, der Hass sei unendlich und unüberwindbar. Das ist er nicht. Es braucht massive Anstöße von außen und von innen, ein Umdenken von vielen Seiten, um diese Perspektive zur praktischen Wahrheit zu machen. Viele Nachbarländer befinden sich in diesem neuen Denkprozess. Die meisten Bürger Israels wollen mit allen anderen ethnischen Gruppen, den Palästinensern, den Christen, den Polen, Ukrainern und Russen usw. normal und friedlich zusammenleben. Dumme Vorurteile von einem jüdisch-fundamentalistischen Staat sind längst widerlegt, 65 Prozent der Israelis betrachten sich heute als nicht religiöse Menschen.
Deutschlands Verantwortung basiert dabei darauf, dass es ohne den Holocaust an den Juden, aus dem der berechtigte Wunsch nach einem eigenen Staat logisch hervorging, den Palästinakonflikt, wie er sich nach 1945 zum schwierigsten Problem der Weltpolitik entwickelt hat, nicht gäbe. Wo sind die Initiativen einer deutschen Regierung oder einer deutsche Partei, mit Hilfe der EU dieses kapitale Problem zu lösen?
Literatur: David Abulafia, Das Mittelmeer. Eine Biografie, Frankfurt/Main 2014; Heinz Arnold, Linke Politik. Eine kritische Einführung, Hamburg 2020; Edward W. Said, Das Ende des Friedensprozesses, Berlin 2002; René Wildangel, Zwischen Elend und Explosion: Die schwelende Krise im Gazastreifen, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 10/2023, S. 111-116.