Eine der Folgen der damaligen Zeitenwende Ende der 80er/Beginn der 90er Jahre war eine weitgehende theoretische und praktische Umorientierung der politischen Linken. Sie basierte nicht nur auf dem von den Führern Großbritanniens und der USA, Reagan und Thatcher, mit aller Macht und Brutalität erzwungenen Niedergang der Gewerkschaften, sondern auch auf dem verbreiteten Glauben, Marktwirtschaft und parlamentarische Demokratie hätten sich endgültig durchgesetzt und Alternativen dazu seien weder denk- noch machbar. Beide Prozesse trafen die Linke gewaltig und waren auch ein dicker Stachel im Fleisch ihrer Argumentation. Viele Linke wagten es einfach nicht mehr, den Kapitalismus grundsätzlich zu kritisieren und vollzogen eine Anpassung an zentrale liberale Positionen, wobei sie diese noch mit gewissen Vorbehalten übernahmen und einigen Einwänden garnierten.
Das war durchaus nichts Verwerfliches, das weiß ich von mir selbst. Als ich 1995 ein Buch über die Regionalpolitik der EU veröffentlicht habe, stand ich selbst mit großen Zweifeln über die linke Theorie da. Ich wollte mir aber nach 30 Jahren Arbeit im Rahmen der Linken nicht eingestehen, dass die fundamentalste These meines Denkens falsch gewesen war und habe im Vorwort dann darauf hingewiesen, dass die Bundesrepublik weiterhin eine Klassengesellschaft war. Aber es war seltsam – zu diesem Zeitpunkt gab es eigentlich kein aktuelles Buch in deutscher Sprache, das diese Annahme irgendwie untermauern konnte, ich konnte nichts Relevantes zitieren. Das damals noch Restbestandteile von kritischem Denken enthaltende Theorem, das die Klassentheorie ersetzen sollte, war der Ansatz “Soziale Milieus”, wobei es um soziale Lagen, Mentalitäten und Pluralisierung der Lebenswelten ging – der herrschaftskritische Impuls der Klassentheorie, der den Kern des Kapitalismus zentrierte, das ökonomische Verhältnis zwischen Arbeitnehmern und Kapitalbesitzern: die Ausbeutung, aus der der Mehrwert hervorgeht, wurde beseitigt – also eine Methode, die postmodernes und euphemistisches Denken priorisierte und als entscheidende Fragestellungen Integration und Ausgrenzung aufwarf.
Damit war der entscheidende Paradigmenwechsel in der Gesellschaftsanalyse vollzogen (denn der Sozialmilieu-Ansatz wurde von linken Sozialdemokraten umgesetzt); Integration und Ausgrenzung traten an die Stelle sozialökonomischer Kriterien, also der Klassenanalyse, und realisierten den Wandel von grundsätzlicher Gesellschaftskritik zu einer sozialliberalen Analyse von Merkmalen und Daten, die quantitative Unterschiede zwischen vielen Gruppierungen anstatt qualitativer Gegensätze und Verhältnisse von Großgruppen im ökonomischen System untersuchte.
Tausende Gesellschaftswissenschaftler in Europa, den USA und Lateinamerika sprangen ziemlich schnell und letztlich naiv auf diesen Zug auf und konzentrierten sich in den Folgejahren und -jahrzehnten auf diese beiden Phänomene: Integration und Ausgrenzung von bestimmten Merkmalsgruppen. Dabei waren die Merkmale, um die es gehen sollte, auch recht flott gefunden: Nationalität, Hautfarbe, Geschlecht, Alter, Gesundheit, sexuelle Orientierung rückten mehr und mehr in den Mittelpunkt. Demografische Aspekte der Menschen ersetzten die Klassenzugehörigkeit und die Klassenverhältnisse. Der Gegensatz von Kapital und Arbeit, die Produktions-, Distributions- und Konsumtionsverhältnisse zwischen Kapitaleignern und Arbeitnehmern spielten keine Rolle mehr, die Klassengegensätze wurden ignoriert und die Verhältnisse zwischen den demografischen Gruppen wurden für entscheidend oder mindestens genauso wichtig erklärt wie die Klassenverhältnisse.
Die Linke nahm sich dieser Merkmalsgruppen an und kämpfte für ihre Gleichberechtigung innerhalb des kapitalistischen Systems. Frauen, Schwarze, Homosexuelle, Behinderte, Ausländer, Flüchtlinge wurden zu den wichtigsten Gegenständen kritischer Forschung sowie kritisch gemeinter Politik und linker Bewegungen gemacht. Klassenanalyse und Klassengegensätze, soziale Ungleichheit, der Antagonismus von Arm und Reich spielten kaum noch eine Rolle, denn sie waren unmittelbar mit den Grundstrukturen und Kernentwicklungen des kapitalistischen Systems verbunden. Dieses System aber geriet nach dem Untergang des pseudoszialistischen Blocks in Ost- und Mitteleuropa weitgehend aus dem Blickfeld, es wurde quasi stillschweigend als sakrosankt betrachtet und konnte sich angesichts der extrem reduzierten und oberflächlichen Perspektive linker Politik ungehemmt weiter in Richtung Globalisierung, Deregulierung, Entstaatlichung und sozialer Ungleichheit, zugunsten der ubiquitären Allmacht der Konzerne und ihrer Eigentümer entwickeln.
Durch die Fokussierung der Linken auf die genannten Merkmale und Gruppen und die Ausklammerung der Kritik am Kapitalismus wurde die Linke selbst Teil der liberalen Segmente der Gesellschaft. Sie hatte zwar noch gesellschaftskritische Forderungen in ihren Programmen stehen und redete hier und da noch über die soziale Ungleichheit, aber in der Alltagspraxis spielten sie keine Rolle mehr. Die Alltagsarbeit der Linken drehte sich vor allem um Rassismus, Gleichberechtigung der Frauen, Benachteiligung von Schwulen, Behinderten und Migranten. Diese Themen waren für die Liberalen und ihre Basis, die Unternehmer, eine feine Sache, denn sie waren laut ihren Programmen und Reden schon seit mindestens 200 Jahren dafür, in diesen Bereichen Benachteiligungen abzubauen und den Rassismus zu überwinden. Zugleich waren sich die Cleveren unter den Liberalen natürlich bewusst, dass eine Linke, die sich auf diese Themen konzentrierte, den Leuten nicht mehr einreden würde, der Kapitalismus sei schlecht oder funktioniere nicht. Sie unterstützten also die Linken immer dann, wenn sie sich für die Gleichberechtigung dieser Gruppen einsetzten und gleichzeitig immer weniger vom Kapitalismus redeten (der letztlich doch die wesentliche Ursache für die Benachteiligung dieser Gruppen war und ist – was die neuen, verblendeten und ignoranten neoliberalen Linken nicht mehr zur Kenntnis nehmen wollten), denn so wurde der politische Aufwand und Einsatz der Linken auf Projekte projiziert, die fast alle bearbeiten wollten und für die man am Kapitalismus nichts ändern musste (das war übrigens, wenn man schon diesen an sich falschen Begriff verwenden will, der wirkliche Linkspopulismus – als die Linken sich auf Dinge konzentrierten, die jeder als evident betrachtete und für die es keines kritischen Denkens bedurfte; linke Populisten im negativen Sinn sind die neoliberalen Linken, die die Gesellschaftskritik ad acta gelegt und sich an verbreitete Stimmungen im Bereich von Anti-Rassismus, Frauengleichberechtigung usw. angepasst haben).
Aus meiner Sicht war die Phase, als die Klassenanalyse noch auf gleicher Relevanzebene wie die Analyse der Unterschiede von Frauen und Männern oder die Benachteiligung von Schwarzen oder Migranten gesehen wurde, recht kurz. Die Thematisierung der Minderheitenrechte und -chancen nahm schnell Überhand und die Klassenverhältnisse verschwanden aus der Betrachtung. Und damit öffneten sich die Wege, die aus der Linken eine politische Strömung machten, in der die Identitätspolitik an erster Stelle stand und steht. So wurde zum Beispiel aus der Linken in Deutschland eine neoliberale Bewegung, die sich der Benachteiligung vieler Gruppierungen annahm und diese gezielt bekämpfte, wobei sie alle Energie darauf konzentrierte. Hierbei wurden natürlich Erfolge erreicht und gesetzliche und faktische Fortschritte durchgesetzt, zusammen mit den übrigen neoliberalen Segmenten von Gesellschaft und Politik, die durch SPD, FDP, Grüne und CDU vertreten werden. Die Identität eines Menschen wird dabei unter Missachtung seiner sozialökonomischen Position in der Gesellschaftsstruktur auf eines oder mehrere Merkmale demografischer Natur reduziert. Man setzt sich als Linke/r für alle ein, die ein bestimmtes demografisches Merkmal aufweisen – zum Beispiel Migrationshintergrund – ohne dabei zu beachten, dass die Migranten kein einheitliches Segment sind, sondern, genau wie andere demografische Gruppen, z. B. Frauen oder Homosexuelle, nach ihrer Klassen- und Schichtzugehörigkeit antagonistische Strukturen aufweisen, wenn es um die gesamte Gruppe im Land geht. Es gibt Migranten, die Multimillionäre sind und es gibt Frauen, die Milliardärinnen sind, und wenn ich mich für alle Migranten oder alle Frauen einsetze, möchte ich diese Differenzen und Antagonismen reflektieren und nicht dazu beitragen, dass die soziale Lage dieser Reichen noch weiter verbessert wird. Das geht nur, wenn ich gleichzeitig dafür eintrete, dass zwar alle Frauen die Gleichberechtigung erreichen, aber dass die Reichen unter ihnen höhere Steuern zahlen müssen und ihre Macht als Konzernherrinnen begrenzt wird usw. Diese Verbindung einer Politik der Bürgerrechte mit antikapitalistischen Maßnahmen hat die Linke nicht geschafft, nicht einmal theoretisch. Die Ursache für dieses Versagen ist ihre Anpassung an neoliberales, unkritisches, oberflächliches Denken und Handeln, das dazu geführt hat, dass sie im Grunde nur noch von Menschen gewählt wird, die neoliberal denken und nicht über die Politik des Einsatzes für Minderheiten hinausgehen wollen.
Zurzeit lässt sich eine qualitativ neue Phase der Neoliberalisierung der Linken feststellen. Die Konzentration auf den Anti-Rassismus hat zum Beispiel dazu geführt, dass heute Menschen mit dunkler Haut verpflichtend zugeschrieben wird, dass ihre Identität darin besteht, dass sie dunkelhäutig sind. Weißen Menschen wird verpflichtend zugeschrieben, dass sie aufgrund ihrer weißen Haut Rassisten sind. Beide Gruppen können nach dieser woken Ideologie von Identität dagegen nichts machen. Schwarze müssen allesamt damit rechnen, dass sie unterdrückt und eventuell von der Polizei erschossen oder erdrosselt werden. Weiße müssen versuchen, sich für ihre weiße Haut zu entschuldigen, was ihnen aber nicht wirklich gelingen kann. Weiße sind per se rassistisch, das ist unausweichlich. Sie können versuchen, ihre Schuld dadurch zu mildern, dass sie sich vor jedem Schwarzen, der ihnen begegnet, auf die Knie werfen und um Verzeihung bitten.
Ein konkretes Beispiel für die Wokeness, die letzte Phase der neoliberalen Linken (die für mich zugleich den Untergang der neoliberalen Linken eingeläutet hat, denn ihr Denken ist jetzt nur noch getarnter Anti-Rassismus – es unterscheidet sich in nichts vom Rassismus der Rechten und der Faschisten). In einer Zeitung der Linken in Deutschland habe ich einen Artikel über die damalige neue Nummer 1 im Welttennis, Naomi Osaka gelesen. Sie erzählte, wie sie mit dieser Position umgeht, was sie in Japan seither erlebt hat usw. Dem Autor war ein Plakat in Japan aufgefallen, auf dem nicht zu erkennen war, dass sie dunkelhäutig ist. Er fragte sie, ob ihr das gefallen hatte. Daraufhin äußerte Osaka, dass sie das Thema nicht interessiere und sie ihre Hautfarbe nicht thematisieren wolle. Und nun entfaltete der linke Autor in der linken Tageszeitung die linke Identitätstheorie. Er betonte ausführlich, dass Naomi Osaka dunkelhäutig sei, dass sie das nicht verschweigen dürfe und dass das alle wissen sollten. Damit tat er genau das, was in einem rechtsextremen Organ sicherlich ebenfalls deutlich betont worden wäre: dass sie dunkelhäutig ist und dass das jeder wissen sollte. Die linke Identitätstheorie betont also selbst dann, wenn das betreffende Individuum explizit äußert, dass es ein bestimmtes Merkmal von sich selbst nicht interessiert und nicht thematisieren möchte, genau dieses Merkmal und schreibt damit diesem Menschen eine potenzielle Benachteiligung zu, die möglicherweise überhaupt nicht existiert und von der dieser Mensch nichts wissen will. Damit erweist sich die woke linke Identitätstheorie als genauso rassistisch wie der Rassismus der extremen Rechten. Naomi Osaka wurde in dem Artikel nicht als neue Nummer 1 im Welttennis dargestellt, sondern als dunkelhäutige Nummer 1 im Welttennis, gegen ihren eigenen Willen. Das ist blanker Rassismus, nichts anderes, und zugleich woke. Hätte der Autor Osakas dunkle Haut nicht erwähnt, hätten ihn die Woken unter den Linken sicherlich scharf kritisiert. Woke sein heißt, Gespenster sehen.
Das grundlegende Problem unserer Zeit ist die Kluft zwischen Arm und Reich. Es ist nicht der Rassismus und nicht die Unterdrückung der Frauen. Wenn die Kluft zwischen Arm und Reich nicht überwunden wird, gibt es keine Chance, Rassismus und Frauenunterdrückung zu beseitigen. Wenn die Kluft zwischen Arm und Reich nicht überwunden wird, gibt es keine Chance, eine ökologische Welt aufzubauen. Erste Voraussetzung für die Überwindung der Kluft zwischen Arm und Reich ist die Beseitigung der Macht der Konzerne und ihrer Eigentümer. Solange die Linke das nicht begreift, wird sie aus dem neoliberalen Sumpf, in dem sie sehr, sehr tief steckt, nicht herauskommen.
Literatur: John McWhorter, Die Erwählten. Wie der neue Antirassismus die Gesellschaft spaltet, Hamburg 2022; Ian Buruma, Doing the Work. Die Protestantische Ethik und der Geist der Wokeness, in: Lettre International 142, Herbst 2023, S. 18-21; Michael Mauke, Die Klassentheorie von Marx und Engels, Frankfurt/Main, Köln 1977; Michael Vester u.a., Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel. Zwischen Integration und Ausgrenzung, Köln 1993; John Lütten, “Klasse” als Strategiebegriff, in: Sebastian Friedrich/Redaktion analyse & kritik (Hg.), Neue Klassenpolitik. Linke Strategien gegen Rechtsruck und Neoliberalismus, Berlin 2018, S. 185-193.