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Liberale Demokratie: zu liberal oder zu schwach?

In ganz Europa wiederholt sich zurzeit eine Entwicklung, die schon nach dem Ersten Weltkrieg stattfand und bis etwa 1940 den roten Faden der Politik der Staaten außerhalb Deutschlands bildete. Dafür gibt es verschiedene Bezeichnungen, die alle um den Begriff Appeasement kreisen, also etwa Beschwichtigung, Nachgeben, Entgegenkommen, Annäherung – in Bezug auf den aufkommenden und schnell durchgesetzten, siegreichen Faschismus. Wir wissen heute, dass das genau die falsche Vorgehensweise war, um die vom Faschismus verübten Massenmorde zu verhindern, die die Faschisten dann völlig ungehemmt begingen, nachdem sie die Demokratien in Europa fast alle in Diktaturen umgewandelt hatten.

Dabei gelang es den Faschisten in etlichen Staaten, viele Wählerstimmen einzusammeln, weil es eine tiefe wirtschaftliche und soziale Krise gab, sodass viele mit den demokratischen Systemen haderten und meinten, irgendwelche großen Führer würden sie vor dem Ruin, dem Hunger und dem Untergang retten. Als diese Tendenzen sichtbar wurden und sich täglich steigerten, gerieten die Vertreter der liberalen Demokratien, zunehmend unter Druck; ihr demokratisches System war in Gefahr und sie mussten reagieren. Was taten die meisten von ihnen, wie reagierten sie auf den Druck von rechts? Letztlich blieben sie bei öffentlichen Verlautbarungen, sie sagten, was ihnen nicht gefiel, mehr oder weniger laut. Die SPD zum Beispiel war nicht bereit zum Generalstreik gegen die Nazis, die deutschen Liberalen waren sich nicht einig gegen die Rechten und die Konservativen leisteten überhaupt keinen Widerstand, ihre extreme Abteilung, die Deutschnationalen, tat sich sogar mit den Nazis zusammen. Die Repräsentanten der liberalen Demokratie zeigten, dass sie schwach waren und insgesamt den Rechten nachgaben, zum Schluss auf allen Ebenen. Der evangelische Pfarrer Martin Niemöller (1892-1984), im Ersten Weltkrieg als deutscher Held ausgezeichnet, später im Widerstand gegen die Nazis, hat nach 1945 sinngemäß gesagt: “Als die Nazis die Kommunisten einsperrten, habe ich geschwiegen, als sie die Sozialdemokraten einsperrten, habe ich geschwiegen, als sie die Liberalen einsperrten, habe ich geschwiegen, als sie die Katholiken einsperrten, habe ich geschwiegen – und dann haben sie mich eingesperrt, da gab es keinen mehr, der etwas sagen konnte.”

Die liberalen Demokratien erwiesen sich nicht als zu liberal, sondern als zu schwach, um den Faschismus zu verhindern. Was hätten sie tun können? Sich massiver wehren, sicherlich. Aber ihre Liberalität hat eine offene Flanke, bis heute. Sie sind in aller Regel im Bereich der sozialen Ungleichheit, gegenüber den Unterschichten, dem unteren Teil der Lohnarbeiterklasse (zu der heute mehr als 90 Prozent der Bevölkerung zählen) weitgehend ignorant und gegenüber dem oberen Segment ihrer Gesellschaft sehr großzügig. Das war damals die Lücke, die soziale Frage, die den Rechten die Massen zuströmen ließ und das ist heute die große Lücke, die viele Menschen aus den Unterschichten in die Arme der Rechten, der Rechtspopulisten, der Demagogen und Faschistenführer treibt. Aber “liberal” heißt doch eigentlich frei oder an Freiheit orientiert. Das Problem ist, dass die wirtschaftlich Schwachen in der liberalen Demokratie bei Weitem nicht die Freiheit der Reichen im selben Land oder sogar in derselben Stadt genießen, in der sie leben. Die sozialen Unterschiede waren damals und sind heute riesig und gefährden heute wieder den Bestand der liberalen Demokratie. Sie könnte diese Lücke schließen und mit einer Politik der relativen Gleichheit – nicht der unsinnigen Gleichmacherei – dafür sorgen, dass die liberale Demokratie zu einem starken System wird, einem System, das dadurch für alle an realer Freiheit zunimmt und den weiteren Aufstieg der Rechten, den Siegeszug der Regression stoppt.

Dazu müsste sie den Mut haben, konkret gegen die Macht und Herrschaft der Reichen, der Multimillionäre und Milliardäre vorzugehen, die Konzerne zu zerlegen und in kleinere Einheiten aufzuteilen; die Macht der Großkonzerne widerspricht allen Theorien und Vorgaben der liberalen Demokratie. Sie müsste für eine Existenzsicherung für alle Bürger*innen arbeiten und ein ausreichendes bedingungsloses Grundeinkommen schaffen. Mit einer Schließung der sozialen Lücke könnte die liberale Demokratie auch die Basis dafür schaffen, dass sie weiterhin alle Schritte unternimmt, mit denen der Liberalismus in allen Bereichen der Gesellschaft durchgesetzt wird und es keinen Millimeter eines Zurückweichens vor den Rechten geben kann; es ist immerhin zu beobachten, dass hier und da doch noch liberale Schritte erfolgen, die die Rechten nicht wollen. Gerade hat Frankreich das Recht auf Abtreibung in die Verfassung aufgenommen. Die beginnende ökologische Umgestaltung bedeutet einen festen Schlag gegen alle Leugner der Klimakatastrophe. So muss es weitergehen. Das bedingungslose Grundeinkommen und bundesweite Volksabstimmungen würden aus der liberalen Demokratie eine liberale und soziale Demokratie machen – was übrigens eine Annäherung der Realität unserer Demokratie an den Auftrag des Grundgesetzes bedeuten würde; laut diesem soll die Bundesrepublik ein “demokratischer und sozialer Bundesstaat” (Artikel 20) sein.

Wer den weiteren Siegeszug der Populisten und Demokratiefeinde, der Autokraten und Diktatoren verhindern will, muss zwei Ziele ernsthaft und konkret verfolgen, durch kurz- und langfristige Maßnahmen. Erstens den Sozialstaat genauso stark machen wie das Wirtschaftssystem und zweitens die liberalen Reformen so konsequent fortsetzen, dass Diskriminierung und Benachteiligung aller Gruppen der Gesellschaft beendet werden. Beides zusammen bedeutet: alles zu tun, was die Rechten, die Rechtspopulisten, die Autokraten, die Demokratiefeinde, die Nationalisten, die Gegner der europäischen Integration, die politischen Freunde der Reichen eben gerade nicht wollen. Immer genau das Gegenteil von dem in die politische Praxis umsetzen, was die AfD will, bei allen Themen. Den Rechten keine Sekunde lang entgegenkommen, ihre ekelhaften Vorschläge alle vom Tisch wischen, keinerlei Kompromisse mit den Rechten, kein Nachdenken über das, was sie von sich geben, egal was es ist.

Nur so können die Rechten gestoppt werden, aber nicht dadurch, dass man ihnen nachgibt und jetzt zum Beispiel eine Flüchtlingspolitik betreibt, die Wünsche der AfD in die Praxis umsetzt. Denn wenn das Nachgeben gegenüber den Rechten einmal losgeht, werden sich immer neue Gründe ergeben, in dieser Richtung weiterzumachen. Und wenn man die Rechten dadurch bekämpfen könnte, dass man ihnen nachgibt, was spricht dann noch dagegen, gleich überall rechtspopulistische Autokratien einzurichten? Das wäre doch die logische Konsequenz einer Strategie des Bekämpfens der Rechten, indem man ihnen nachgibt, oder? Eine perverse Logik – aber die Logik des Nachgebens. Der Blick zurück im Zorn, hundert Jahre zurück, zeigt: Genau diese perverse Logik hat zum Sieg der Faschisten und Massenmörder geführt, die Logik des Nachgebens, zu der die liberale Demokratie ohne starke soziale Säulen neigt und mit der sie sich am Ende selbst abschafft.

Literatur: Kurt Sontheimer, Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik. Die politischen Ideen des deutschen Nationalismus zwischen 1918 und 1933, München 1978; Harald Trabold, Kapital, Macht, Politik. Die Zerstörung der Demokratie, Marburg 2014; Wolfgang Abendroth, Das Grundgesetz. Eine Einführung in seine politischen Probleme, Pfullingen 1972.

Dr.HeinzArnold

Abitur in Biedenkopf/Lahn, Studium Anglistik, Politik, Geografie, Philosophie, Soziologie, Pädagogik an den Universitäten Heidelberg und Marburg/Lahn, Promotion Dr. rer. pol. Universität Kassel, Lehraufträge in Geografie und Politik an den Universitäten Trier und Kassel, zahlreiche Buch- und Zeitschriftenveröffentlichungen in Politik, Soziologie und Geografie, in der politischen Linken aktiv seit 1968. Bücher u.a.: Linke Politik - eine kritische Einführung, Hamburg 2020; Gesellschaften, Räume, Geografien, Trier 1997; Disparitäten in Europa: Die Regionalpolitik der Europäischen Union - Analyse, Kritik, Alternativen, Basel/Boston/Berlin 1995; Saar-Lor-Lux/Trier-Westpfalz/Wallonie - Strukturen und Perspektiven einer Europäischen Großregion, Trier 1998; Soziologische Theorien und ihre Anwendung in der Sozialgeografie, Kassel 1988; Aldous Huxley, Brave New World, Berlin 2005 (Hrsg.); Lektüreschlüssel George Orwell, Animal Farm, Stuttgart 2011

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