Die Sprache spiegelt die Verhältnisse einer Gesellschaft, aber sie wirkt auch auf diese Verhältnisse ein. Beide Komplexe ändern sich ständig, aber wir können oft nicht sagen, ob der Wandel gut oder schlecht ist. Ein aktuelles Beispiel ist der täglich an jeder Ecke und in jedem Medium hundertfach geäußerte Satz, besser: die Frage: “Was macht das mit mir?” Eigentlich ist das die Aussage unseres Jahrzehnts. In ihr stecken alle ideologischen Elemente der Gegenwart, alle “Narrative” des heutigen geistigen Elends, so kurz sie auch sein mag. Zunächst fragt sie danach, was mit mir passiert, was mit mir gemacht wird, durch ein äußeres Ereignis, einen anderen Menschen, ein “Etwas”, das irgendwie Macht über mich hat und mit mir etwas tut. Damit wird eine Grundannahme in den Raum gestellt, die typisch für das Mittelalter war, für die königlichen Diktaturen, die Monarchien, in denen der normale Mensch seinen Landgraf fragen musste, ob er heiraten durfte, ob er die Grafschaft verlassen durfte, ob er mit diesem oder jener befreundet sein durfte usw. usf. Ereignisse brachen über die Menschen herein oder die Mächte auf allen Ebenen machten etwas mit ihnen. Der Unterschied zu heute bestand vielleicht darin, dass es im Mittelalter nicht erlaubt war, diese Frage überhaupt zu stellen; was da passierte, hatte man hinzunehmen und keine Fragen zu stellen. Man musste froh sein, wenn man überlebte, egal was mit einem gemacht wurde. Einer wie Wilhelm Tell hatte dann den Mut, sich mit dem Landgraf anzulegen und dadurch war seine Herrschaft dann schnell beendet. Aber er und seine Freunde waren kein Allgemeintypus, sondern rar. Trotzdem kam dann später doch die Aufklärung und der Einstieg in die Moderne. Und hier hieß die zentrale Frage, die sich ein Mensch stellte, nicht, was macht etwas mit mir, was macht die Welt mit mir, sondern: “Was mache ich mit der Welt?” – und das war der Beginn des Individuums, des Menschen, der bei dem Vorlauf der schon recht aufgeklärten Antike nach dem Mittalter quasi seine Wiedergeburt, die Renaissance, erlebte – nein, nicht erlebte, sondern schuf, produzierte, herstellte, machte – als aktives Subjekt, das die Welt, obwohl sie aus Mächten und Kräften außerhalb des Einzelnen besteht, selbst formt, verändert, entwickelt, gestaltet, bemalt, beschreibt. Und genau dieses aktive Subjekt ist zurzeit nicht mehr erwünscht. Erwünscht ist ein folgsames, sich wegduckendes Objekt, das Angst hat, vor dem System, vor den Reichen, vor den Mächtigen, vor den Autoritäten, vor Naturkatastrophen, vor Seuchen, vor Krankheiten, vor Inflation, vor Umweltzerstörung, am besten vor allem. Ein Mensch, der sich ständig und pessimistisch fragt: “Was macht das mit mir?”, ein gebrochenes Objekt von äußeren Einflüssen, von irgendwelchen Vorgängen und Kräften bedrückt, gegen die man sich nicht wehren kann, man kann sich höchstens fragen, wie man sich fühlt, wie ohnmächtig man sich vorkommt, wie hilflos, wie ausgeliefert. Ich halte dieses Denkmuster für das herrschende unserer Tage. Es passt perfekt zu den zunehmend autoritären Tendenzen in der kapitalistischen Welt, zum Aufkommen der Diktaturen und des Faschismus, zum Wachstum der rechten Bewegungen gegen Demokratie und Toleranz, zum Ausklammern der massiven Ungleichheiten in den heutigen Gesellschaften aus jeglicher öffentlichen Diskussion, zu den Kniefällen der politischen Systeme vor den Konzernen, Oligarchen und Multimilliardären aller Schattierungen, zur Konstruktion eines Menschen, der auf dem Weg zum Roboter und zum KI-Baukästchen natürlich vor allem eine Eigenschaft haben muss – passiv und unterwürfig sein, alles hinnehmen und mit sich selbst ausmachen, alles schlucken und niemals auf die Idee kommen, zu reagieren. Denn das wäre eigentlich die humane Logik – wenn ich merke, dass etwas mit mir gemacht wird, dass mich jemand zum Objekt machen will, überlege ich, was ich dagegen tun kann und tue dann etwas. Denn das sind wir tatsächlich: Subjekte, die aktiv handeln können und sollen, gegen alles, was mit uns gemacht wird und für alles, was wir selbst für richtig und wünschenswert handeln. Es bleibt also bei der Frage: “Was mache ich mit der Welt?”; nur darum kann es gehen, wenn die Menschheit überleben und für alle Menschen ein gutes Leben schaffen will. Linke Politik kann nur leben, wenn sie von dieser Frage ausgeht und die Unterwerfung als Alternative grundsätzlich ausschließt.
Dr.HeinzArnold
Abitur in Biedenkopf/Lahn, Studium Anglistik, Politik, Geografie, Philosophie, Soziologie, Pädagogik an den Universitäten Heidelberg und Marburg/Lahn, Promotion Dr. rer. pol. Universität Kassel, Lehraufträge in Geografie und Politik an den Universitäten Trier und Kassel, zahlreiche Buch- und Zeitschriftenveröffentlichungen in Politik, Soziologie und Geografie, in der politischen Linken aktiv seit 1968. Bücher u.a.: Linke Politik - eine kritische Einführung, Hamburg 2020; Gesellschaften, Räume, Geografien, Trier 1997; Disparitäten in Europa: Die Regionalpolitik der Europäischen Union - Analyse, Kritik, Alternativen, Basel/Boston/Berlin 1995; Saar-Lor-Lux/Trier-Westpfalz/Wallonie - Strukturen und Perspektiven einer Europäischen Großregion, Trier 1998; Soziologische Theorien und ihre Anwendung in der Sozialgeografie, Kassel 1988; Aldous Huxley, Brave New World, Berlin 2005 (Hrsg.); Lektüreschlüssel George Orwell, Animal Farm, Stuttgart 2011