Was heute Antifaschismus ist, kann nur geklärt werden, wenn eine einigermaßen deutliche Definition von Faschismus vorliegt. Dieser umfasst heute wieder, wie im 20. Jahrhundert, politische Bewegungen, aber auch politische Systeme an der Macht. Sie können durch eine Liste von Merkmalen bestimmt werden, die nicht neu ist, aber erneut ins Bewusstsein gerückt werden muss, denn viele derjenigen, die sich heute als Antifaschisten bezeichnen, sind es nicht mehr, weil sie sich weigern, den historischen Wandel und die heutige Wirklichkeit zur Kenntnis zu nehmen.
Faschismus entsteht im Kapitalismus aus einem politischen Spektrum, das als rechtskonservativ gilt. Dieses Spektrum ist recht breit und oft noch an demokratische Strukturen gebunden, betrachtet diese aber als optional und ist im Zweifels- oder Krisenfall bereit, sich von der Demokratie zu verabschieden, um eine brutale Diktatur einzuführen und dauerhaft zu etablieren. Zu den Merkmalen gehören scharfer Nationalismus, totaler Staat, Verabsolutierung/Mythologisierung der Volksgemeinschaft, Missachtung von Menschen- und Bürgerrechten, Unterdrückung von Minderheiten, Beseitigung der Meinungsfreiheit, Überhöhung der eigenen Geschichte, Führerprinzip und -kult, das Recht des Stärkeren/Sozialdarwinismus, eine große Bereitschaft zu kriegerischer Gewalt und zu massiven Verstößen gegen das Völkerrecht, einschließlich des Bruchs international verbindlicher Verträge.
Zwei klassische Fälle des Faschismus an der Macht waren die autoritären und rechtsextremistischen Regime in Italien und Deutschland im 20. Jahrhundert. Auf sie treffen alle genannten Merkmale zu. Das gilt auch für andere Regime, aber ich möchte sie hier vernachlässigen. Wenn also die genannten Merkmale ausreichen, um Faschismus grundlegend zu erkennen, welche Länder in Europa sind dann heute faschistisch?
Die Ukraine, wie der international per Haftbefehl gesuchte Kriegsverbrecher Putin behauptet? Welche der genannten Merkmale treffen auf die Ukraine zu? Soweit ich sehe, kein einziges. Die Ukraine ist ein angegriffenes Land in Osteuropa, das sich mit großer Mehrheit demokratisch organisiert hat und Teil der Europäischen Union werden will. Ungarn, das sich im Innern toxisch entwickelt hat und Russlands bester Freund in Europa ist? Viele der Merkmale treffen auf Ungarn zu, aber bisher ist keine Bereitschaft zum Krieg zu erkennen. Ungarn ist eine autokratische Diktatur und damit im Kern ein faschistischer Staat, aber der Begriff Faschismus kann gemäß der obigen Liste nicht vollständig angewandt werden, also kann es als halbfaschistisch oder protofaschistisch bezeichnet werden, wobei alle zu beobachtenden Tendenzen, die Europafeindlichkeit eingeschlossen, darauf hindeuten, dass sämtliche Merkmale des Faschismus auf Ungarn immer klarer und intensiver zutreffen, die direkte kriegerische Gewalt ausgeschlossen – allerdings sabotiert Ungarn in der EU, falls möglich, alle Maßnahmen zur militärischen Unterstützung der Ukraine gegen den Aggressor Russland und trägt so die russische kriegerische Gewalt aus massenhaften Morden von Kindern und Zivilisten aktiv mit.
Ich habe kein Problem damit, Ungarn als faschistisch zu bezeichnen und seinen Führer Orban als Faschisten. Ich kann nicht erkennen, dass diese Erkenntnis irgendwie diskussionswürdig wäre. Genauso wenig ist es diskussionswürdig, wenn das heutige Russland als faschistisch definiert wird. Es praktiziert alle genannten Merkmale in massivster Form, es ist eine autokratische Diktatur und ein Führerstaat. Es überfällt Nachbarländer und andere Staaten und tötet und mordet dort nach dem Muster Hitlerdeutschlands. Über die genannten Merkmale hinaus wird in Russland systematisch gefoltert, vom Geheimdienst, von der Polizei und von der Armee. Das Russland unserer Tage ist der Staat in Europa, der am stärksten allen Kriterien von Faschismus entspricht und eine Wende oder eine Änderung ist nicht erkennbar. Russlands Wirtschaft ist eine Kriegsökonomie, sein politisches System ist eine voll ausgeprägte Diktatur und seine Kultur befindet sich in einem Zerstörungsprozess, an dessen Ende das in naher Zukunft absehbare Fazit lauten wird: Russland ist in allen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Sphären ein faschistischer Staat, ein rechtsradikales Regime, das in wesentlichen Zügen dem gleicht, was in Italien und Deutschland in den Zwanziger, Dreißiger und Vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts Realität war.
Deshalb heißt Antifaschismus heute zunächst einmal, diese Wirklichkeit zu erfassen und zu verbreiten. Daraus folgt, dass Antifaschismus heute in Europa an erster Stelle darin besteht, das faschistische Regime in Russland zu bekämpfen, mit allen Mitteln, militärische eingeschlossen. Russland muss militärisch besiegt und politisch demokratisiert, also das faschistische System beseitigt werden. Die Ukraine muss militärisch so stark unterstützt werden, dass der russische Faschismus seinen Angriffskrieg verliert. Das Land muss nach seiner bedingungslosen Kapitulation unter internationale Besatzung gestellt und politisch vollständig umstrukturiert werden, in eine föderale Demokratie, komplett entmilitarisiert und entfaschisiert, das heißt, alle Vertreter des heutigen faschistischen Systems müssen entlassen und bestraft werden, sämtliche Kriegsverbrecher eingeschlossen. Die Geheimdienste müssen allesamt aufgelöst und ersatzlos beseitigt werden. Russlands Atomwaffen müssen von der UNO konfisziert und komplett vernichtet werden. Russland darf für mindestens 50 Jahre keine Armee und kein Militär mehr betreiben, keine Luftwaffe und keine Marine.
Das ist Antifaschismus heute in Europa, erstens Kampf gegen die russische faschistische Diktatur auf allen Ebenen und mit allen Mitteln aller europäischen Länder. Und Antifaschismus in Europa bedeutet zweitens, dass in jedem Land Europas alle Bewegungen, die mit diesem heutigen faschistischen Russland und seinen mörderischen Führungskräften kooperieren oder sympathisieren, ebenfalls mit allen Mitteln bekämpft werden müssen. Das bedeutet in Deutschland heute, alles zu unternehmen, um Parteien wie die AfD oder die Wagenknechtpartei zu bekämpfen, damit sie niemals eine Chance erhalten, politische Macht ausüben zu können. Das ist Antifaschismus heute. Dasselbe gilt für alle ähnlichen Bewegungen in allen europäischen Ländern, sie müssen bekämpft und überwunden werden, falls nicht anders möglich, auch durch Parteienverbote.
Es ist nicht antifaschistisch, Waffenlieferungen an die Ukraine und damit gegen den russischen Faschismus abzulehnen, sondern profaschistisch. Wer die Ukraine militärisch nicht unterstützen will, schlägt sich nolens volens auf die Seite des russischen Faschistenregimes und verliert jedes Recht, sich als antifaschistisch zu deklarieren. Wer die anhaltende Sabotage des ungarischen Führers und Diktators Orban gegenüber der europäischen Integration toleriert oder unterstützt, verhält sich ebenfalls profaschistisch und verliert das Recht, sich als Europäer*in zu gerieren. Wer verlangt, europäische Integrationsschritte zurückzunehmen und Kompetenzen der EU auf die Nationalstaaten zurückzuverlagern, verhält sich ebenfalls profaschistisch, denn damit werden die faschistischen Führer Orban und Putin unterstützt, damit wird ihre Sabotage des europäischen Zukunftsprojekts gefördert. Die europäische Integration ist eins der wirksamsten Mittel der Verhinderung von faschistischen Bewegungen und Regimen. Es würde noch wirksamer, wenn das ursprünglich hochgeschätzte Prinzip der Subsidiarität wieder ernst genommen würde. Denn dadurch würde die europäische Integration zu einer dezentralen und demokratischen Integration, nicht zu einer zentralistischen Angelegenheit. Dezentralisierung und Demokratisierung sind ebenfalls zentrale Instrumente gegen Faschismus, denn Faschismus ist immer zentralistisch und diktatorisch. Antifaschismus impliziert heute ein Konzept für die dezentrale europäische Integration, die zugleich die Demokratie an der Basis und durch Plebiszite ausbaut.
Literatur: Das kleine Staatslexikon. Politik, Geschichte, Diplomatie, Recht, Frankfurt/Main 2000.