Allgemein

Profitgier statt Inflation: Kämpfe, Streiks und Gewerkschaften

Seit dem Beginn des Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine sind die Energiepreise gestiegen – das war für einige Zeit nachvollziehbar. Mittlerweile sind die Preise auf dem Weltmarkt für Öl und Gas wieder deutlich gesunken, aber die Verbraucher/innen merken davon nichts. Gleichzeitig mit dem Anstieg wurden und werden bis heute die Preise für fast alle Produkte in gewaltigen Ausmaßen ständig erhöht, ohne Ende. Und die Energie- und Stromkonzerne weisen riesige Gewinne aus, während Hunderttausende in diesem Land ihre Stromrechnungen nicht mehr bezahlen können.

Zugleich legen die Behörden monatlich neue Zahlen vor, die auf einem Einkaufskorb basieren, den kein Mensch in dieser Form jeden Monat bezahlt; darin enthalten sind Produkte, die man normalerweise einmal alle zwei Jahre kauft, die amtliche Inflationsrate ist also gezielt gering gehalten und hat mit der Realität wenig zu tun.

Außerdem steigen die Preise natürlich in den Bereichen am explosivsten, wo ich als Normalbürger keine Ausweichmöglichkeit habe – bei den Lebensmitteln. Und bei den Lebensmitteln ist überhaupt nicht erkennbar, warum dort die Inflation so hoch sein soll und auf welchen neuen Superkosten die astronomischen Preiserhöhungen basieren. Nicht nachvollziehbar sind allerdings auch die starken Preiserhöhungen in vielen anderen Bereichen von Industrie und Dienstleistungen – hier wird einfach auf dem Trittbrett mitgefahren und abkassiert.

Was bedeuten eigentlich Preiserhöhungen? Konkret: Die Bürger/innen zahlen für dasselbe Produkt deutlich mehr als zuvor und die Unternehmen machen mit demselben Produkt mehr Umsatz und oft genug auch mehr Gewinn; wenn es Preiserhöhungen gibt, liegt es in der Natur unseres Wirtschaftssystems, dass alle dabei mitmachen. Denn das ist für die Unternehmen, insbesondere die großen, wie ein herrliches, andauerndes Fest, ein Anlass zum Jubeln: Ohne irgendeinen Aufwand bekommen sie mehr Geld in die Kassen und können ihre Gewinne ordentlich steigern. Gerade heute wurde ein großer internationaler Bericht veröffentlicht, in dem diese aktuelle, gewaltige Inflationswelle beschrieben wird. Fazit dabei: In Deutschland wird im Vergleich mit anderen Ländern die sogenannte Gewinnmitnahme durch die Unternehmen, also das unbegründete Preissteigern und Abkassieren der Verbraucher/innen, besonders stark betrieben.

Warum ist das wohl so? Ein Grund dürfte sicherlich darin bestehen, dass die Unternehmen in diesem Land von den Verbrauchern/innen bzw. Bürgern/innen wenig Widerstand erwarten. Welche Art von Abwehr kann ich denn als normaler Konsument einsetzen, um gegen Preiserhöhungen vorzugehen? Für alle bedeuten Preiserhöhungen ja nichts anderes als Lohn- und Gehaltskürzungen, denn das Geld wird weniger wert, mit jeder einzelnen Erhöhung eines Preises. Ich leiste dieselbe Arbeit und bekomme dafür weniger, zwar dieselbe Geldsumme, aber für diese Summe kann ich mir weniger kaufen als vor der Preissteigerung.

Die Inflation ist ein Vorgang, der die Machtverteilung im Kapitalismus, in der Marktwirtschaft unserer Tage, sehr deutlich zeigt. Während die sogenannte Arbeitgeberseite durch höhere Preise mehr Gewinn erwirtschaftet, verliert die sogenannte Arbeitnehmerseite einen Teil des Werts, den das Geld vor der Preiserhöhung hatte. Und beides passiert gleichzeitig, hier wird die Macht der Unternehmen gegenüber den Beschäftigten und Verbrauchern/innen offensichtlich. Die Inflation ist ein Prozess zwischen sehr ungleichen Beteiligten am Wirtschaftsgeschehen und kann die eine Seite reich und die andere Seite im selben Atemzug arm machen.

Zweihundert Jahre lang, so ungefähr von 1700 bis 1900, hat der Kapitalismus auch so funktioniert. Inflation war in einem bestimmten Rahmen eine feine Sache für die Unternehmen und eine üble für die anderen in der Wirtschaft. Aber dann entwickelten sich Organisationen auf der Seite der Arbeitnehmer, die nicht nur politische Veränderungen wollten, sondern einfach dafür kämpften, dass Einkommensverluste durch Inflation nicht akzeptiert und ausgeglichen wurden. Das waren und sind die Gewerkschaften, die nicht nur Tarifverhandlungen führen, sondern auch Streiks organisieren können, wenn die sogenannten Arbeitgeber meinen, sie könnten die Löhne und Gehälter so gering halten, dass die Inflation zu realen Einkommensverlusten der Beschäftigten führt. Gäbe es die Gewerkschaften nicht, würde es nicht nur den Arbeitnehmern/innen, sondern allen im Land deutlich schlechter gehen, denn die Einkommen der Arbeitenden sind letztlich auch die Einkünfte der Unternehmer und ihre Prosperität beruht in großem Umfang auf der Einkommenshöhe der Beschäftigten im Land – wenn die Arbeitnehmer/innen Lohnverluste erleiden, können die Anbieter auf den Märkten nicht mehr so viel verkaufen und auch deren Einkünfte sinken.

Um in Zukunft eine solche künstliche Inflationswelle, wie wir sie zurzeit erleben, zu verhindern, ist es dringend erforderlich, in diesem Land die Gewerkschaften zu stärken und sie auch zu Streiks zu ermuntern, wenn sie in den Tarifverhandlungen nichts Befriedigendes erreichen. Die Gewerkschaften vertreten in der Wirtschaft die wichtigsten Interessen von etwa neunzig Prozent der Menschen in Deutschland. Nur sie können den wesentlich mächtigeren Unternehmensgruppen in der Wirtschaft das abringen, was ihnen mindestens zusteht, im Rahmen des marktwirtschaftlichen Systems. Nur aktive Gewerkschaften, die von der Gegenseite nicht unterschätzt und verharmlost werden, können Einkommensverluste der Beschäftigten und damit Wohlstandsverluste der gesamten Wirtschaft und Gesellschaft verhindern. Die Armutsquote im Land liegt schon bei etwa fünfzehn bis zwanzig Prozent der Bevölkerung. Nur die Gewerkschaften können dafür sorgen, dass sie nicht weiter steigt.

Literatur: Wolfgang Abendroth, Arbeiterklasse, Staat und Verfassung, Frankfurt/Main 1975; Heinz Arnold, Linke Politik. Eine kritische Einführung, Hamburg 2020; Oskar Negt, Wozu noch Gewerkschaften?, Göttingen 2004; Harald Trabold, Kapital, Macht, Politik. Die Zerstörung der Demokratie, Marburg 2014.

Dr.HeinzArnold

Abitur in Biedenkopf/Lahn, Studium Anglistik, Politik, Geografie, Philosophie, Soziologie, Pädagogik an den Universitäten Heidelberg und Marburg/Lahn, Promotion Dr. rer. pol. Universität Kassel, Lehraufträge in Geografie und Politik an den Universitäten Trier und Kassel, zahlreiche Buch- und Zeitschriftenveröffentlichungen in Politik, Soziologie und Geografie, in der politischen Linken aktiv seit 1968. Bücher u.a.: Linke Politik - eine kritische Einführung, Hamburg 2020; Gesellschaften, Räume, Geografien, Trier 1997; Disparitäten in Europa: Die Regionalpolitik der Europäischen Union - Analyse, Kritik, Alternativen, Basel/Boston/Berlin 1995; Saar-Lor-Lux/Trier-Westpfalz/Wallonie - Strukturen und Perspektiven einer Europäischen Großregion, Trier 1998; Soziologische Theorien und ihre Anwendung in der Sozialgeografie, Kassel 1988; Aldous Huxley, Brave New World, Berlin 2005 (Hrsg.); Lektüreschlüssel George Orwell, Animal Farm, Stuttgart 2011

You may also like...

Leave a Reply

Your email address will not be published. Required fields are marked *