Die soziale Ungleichheit weltweit und innerhalb der meisten Länder ist seit Jahrzehnten sehr groß. Und sie nimmt zurzeit noch schneller und stärker zu, basierend auf der Bankenkrise von 2007/2008, aber noch mehr auf der Coronakrise und den Folgen des Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine. Der Anteil des obersten einen Prozents am Nationalvermögen nimmt ständig zu, während der von den übrigen 99% permanent zurückgeht. Der Reichtum dieser kleinen Gruppe aus der Bevölkerung beruht vor allem auf der Produktion und dem Angebot von Gütern und Dienstleistungen, erbracht durch andere. Er wird durch Erbschaften, Dividenden, Kapitalgewinne, Zinsen und Zinseszinsen, Mieten und Pachten – die größten anderen leistungslosen und unverdienten Einkünfte – eingestrichen und zu großen Teilen in Steueroasen verborgen. Das Wirtschaftsgeschehen, Medien und Politik unterliegen in großem Ausmaß dem Einfluss der Reichen, die damit die Möglichkeiten einer Gestaltung durch die Demokratie und die Mehrheit im Land erheblich begrenzen – sie können ihre Interessen und Ideologien weitgehend durchsetzen. Ihr Konsum ist unmäßig und verschwenderisch, sie gehen sehr großzügig mit den Ressourcen um und verbessern ihre Machtpositionen in der Gesellschaft und in Bezug auf die Natur anhaltend und wirkungsvoll. Ihre CO2-Bilanzen sind katastrophal und tragen entscheidend zur bedrohlichen Erderwärmung bei. Früher, bis in die 70er Jahre, investierten Sie ihr Geld oft in Produktions- und Dienstleistungsunternehmen und schufen zusätzliche Arbeitsplätze; heute stecken Sie die Millionen lieber in Geschäfte, bei denen sie aus Geld direkt mehr Geld machen wollen, also überwiegend in Aktien, Casino-Fonds, Spekulation, Wetten und nur noch wenig in Produktion oder Dienstleistung. Die Reichen haben sich in den letzten vier Jahrzehnten eine eigene Welt, eine Parallelwelt, geschaffen, in der sie weitgehend unter sich sind und mit normalen Bürgern/innen kaum noch in Kontakt geraten. Ihre Wohn-, Arbeits- und Freizeitwelten sind exklusiv, separiert und segregiert von den anderen 99 Prozent.
Alles das wäre vielleicht nicht so entsetzlich schlimm, wie manche es einschätzen. Letztlich hat das Wirtschafts- und Gesellschaftssystem bis etwa 2019 trotz dieser kaum vorstellbaren sozialen und finanziellen Ungleichheit, die insbesondere eine fast allmächtige Finanzelite nach oben gespült hat, immer noch irgendwie funktioniert, und es wurde auch weitgehend so oder so toleriert.
Aber jetzt ist das Maß voll und die Toleranzschwelle überschritten. Die Coronamaßnahmen haben unglaublich viel Geld gekostet und jetzt werden viele von den Energiekosten erschlagen, als Konsequenz der Maßnahmen gegen das imperialistisch-faschistische Russland mit dem Angriffskrieg gegen die demokratische Ukraine. Die deutsche Regierung braucht, wie viele andere Regierungen, sehr viel Geld, um die Energiekrise abzusichern, um das Bildungssystem zu modernisieren, um die Energiewende umzusetzen, um die Landesverteidigung angesichts der Aggressivität Russland zu stabilisieren, um das Gesundheitswesen zu sichern und um mit der Armut bzw. Prekarität eines großen Teils der Bevölkerung Schluss zu machen, um die Kinderbetreuung auszubauen (die Liste könnte ich noch ganz ordentlich verlängern). Dieses Geld ist zu einem hohen Prozentsatz im Land bzw. bei den reichen Menschen im Land vorhanden, aber es muss für alle diese dringenden Bedarfe jetzt in die Hand genommen und vergesellschaftet werden, für die gesamte Gesellschaft.
Jetzt ist es an der Zeit, die vierzig Jahre lang praktizierte Umverteilung von Wohlstand von unten nach oben zu beenden. Jetzt ist es einfach unausweichlich, die Reichen stärker für die Kosten der anstehenden Transformationen und Problemlösungen in die Pflicht zu nehmen, denn der weitaus größte Teil ihrer Einkünfte und Besitztümer ist unverdient. Die Steuersätze für die Boden- und Immobilienwerte müssen deutlich erhöht werden, die Kosten für Privat- und Unternehmenskredite müssen gesenkt werden, die Vermögensteuer muss wieder aktiviert werden, die Erbschaftsteuern deutlich erhöht werden. Das Bankenwesen muss stärker reguliert werden, durch eine Ausschaltung des Wett- und Casinobereichs und staatlich festgelegte Höchstgrenzen für Boni, die Gewinnsteuern für die Konzerne müssen steigen, die Vermeidung der Körperschaftsteuer muss gestoppt werden, der Spitzensteuersatz der Einkommensteuer muss wieder – wie zu Wohlstandszeiten in den 50er und 60er Jahren – bis auf 90 Prozent erhöht werden, die CO2-Steuer muss von den Unternehmen, nicht von den Verbrauchern bezahlt werden; die Gesellschaft muss sich aufraffen, das zu tun, was tatsächlich nicht nur in den USA, sondern auch in Deutschland, viele Reiche selbst schon wiederholt öffentlich und sogar gemeinsam gefordert haben: Den Reichen muss sehr viel mehr Geld und Vermögen entzogen werden, als es bisher geschieht, damit das Land insgesamt als Wohlstandsland bestehen bleiben kann, damit wenigstens die allerdringendsten Aufgaben und Probleme einer Lösung zugeführt werden, denn dafür fehlen jetzt an vielen Stellen die finanziellen Mittel. Insbesondere in der Coronakrise hat der Staat ja ausgesprochen machtvoll agiert und gezeigt, dass der Primat der Politik noch lebt. Dieser kann und muss jetzt für die Finanzierung der gesamtgesellschaftlichen Zeitenwende umgesetzt werden, gegen die absolut ungerechte Verteilung von Geld und Vermögen. Dabei geht es gar nicht darum, die Reichen arm zu machen oder ihren Wohlstand zu zerstören, sondern darum, das viele Geld – das sie gar nicht brauchen und mit dem sie selbst nichts anderes anfangen können, als im Internet zu spielen, zu spekulieren, zu wetten, es in Steueroasen zu parken, für sinnlose Ressourcenverschwendung einzusetzen usw. usf. – für nützliche Zwecke und Ziele zu aktivieren und so den Wohlstand der ganzen Gesellschaft zu fördern und das gesamte, äußerst ungleiche System in Richtung von mehr Gleichheit und Solidarität zu verändern, im Sinn einer Wohlstandsorientierung für alle und weg von der neoliberal geprägten und schon lange gescheiterten Ausrichtung des Lebens, des Denkens und Handelns, auf sensationellen Reichtum.
Literatur: Andrew Sayer, Warum wir uns die Reichen nicht leisten können, München 2017; Christian Neuhäuser, Reichtum als moralisches Problem, Berlin 2018.