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Der Heilige Geist

Pfingsten ist für mich die Geburtsstunde des Christentums. Ein paar Anhänger von Jesus, dem jüdischen Sektierer und Utopist, trafen sich und ließen sich von einem neuen Denken inspirieren, das außer ihnen nur wenige kannten, dem sie aber durch ihren unglaublich starken Einsatz am Ende weltweit zum Durchbruch verhalfen, wenn das entsprechende Wirken ihrer Folgegenerationen mitbedacht wird. Die grundlegendsten Ideen dieser Urchristen, ihr heiliger Geist, bestanden in hohen moralischen Werten wie Bescheidenheit, Brüderlichkeit, Gleichheit, Toleranz und Mitleid.

Pfingsten ist insofern auch die Geburtsstunde des Marxismus bzw. der linken politischen Theorie, die sich nicht auf Marx reduzieren lässt, dessen Denken aber die zentralen linken Axiome enthält. Marx war für die politischen Bewegungen der ärmeren Klassen so etwas wie Jesus im Christentum, eine Person, die in der Lage war, ein Gedankengebäude zu errichten, das der ganzen Menschheit ein besseres Leben und mehr Freiheit in Aussicht stellte – wobei Jesus sich an der Mythologie und Marx an der Wissenschaft orientierte.

Nach der Geburtsstunde des Christentums und seiner Ausbreitung in der Welt geschah etwas Ähnliches wie nach der Geburtsstunde des Marxismus und seinem Siegeszug über mehrere Kontinente. Aus Gedankengebäuden und Ideen mit höchsten sozialen und ethischen Ansprüchen entstanden Dogmen und Institutionen, die aus dem Elan und Schwung des Anfangs, aus dem innovativen heiligen Geist einer neuen Denkweise, ein stählernes Gehäuse aus fixierten Glaubenssätzen machten, die mit dem Anfangsdenken fast nichts mehr zu tun hatten, die das ganze Denksystem vollständig korrupt und letztlich mörderisch machten.

Institutionen wie die Kirche und die Kommunistische Partei installierten Herrschaftssysteme, die sich in der Realität in maximalem Umfang gegen die richteten, in deren Namen sie einst angetreten waren. Im Auftrag der Kirche wurden zum Beispiel die Kreuzzüge geführt – wie viele Tote sie verursachten, ist nicht bekannt. Unter der Diktatur der Päpste und Bischöfe wurden Hexenverfolgungen durchgeführt und auch die Zahl der Toten in den vielen Glaubenskriegen, von denen auch heute noch einige stattfinden, ist ungewiss. Über die Zahl der Morde, die die Stalinsche Diktatur in der UdSSR ausführte, gibt es Schätzungen von 20 Millionen und mehr. Alle diese Morde geschahen im Namen des Christentums, also angeblich im Namen von Jesus Christus, und im Namen des Marxismus, also im Namen von Marx – was vollkommen verrückt ist, denn beide hätten keiner einzigen dieser perversen Tötungen jemals zugestimmt, sie wollten etwas vollkommen anderes, als die vor ihrem historischen Hintergrund aufgebauten mörderischen Institutionen es dann später taten.

Der heilige Geist aus den Gründerzeiten beider Denk- und Handlungsströmungen, der zwischenzeitlich immer mal wieder aufblitzte, zum Beispiel durch Thomas Müntzer in den Bauernbefreiungsversuchen im 16. Jahrhundert oder im Ungarn der Räterepublik von 1956, in der jugoslawischen Selbstverwaltung der 1950er, 1960er und 1970er Jahre, ist meiner Ansicht nach heute nicht mehr vorhanden. Das traditionelle Christentum als Institution zeigt keinerlei heiligen Geist in Bezug auf die Frauen und der Marxismus hat es bis heute nicht geschafft, sich auch nur im Geringsten zu erneuern oder seine katastrophale Geschichte zu reflektieren

Leider kann ich für die Kirche keine näheren Vorschläge für eine Rückkehr zum heiligen Geist, zum Schwung und Elan der Gründerzeiten, machen, weil mir dafür die Erfahrung und das Wissen abgehen. Für den Marxismus bzw. die linke politische Theorie denke ich aber, dass einige Ideen dringend umgesetzt werden müssen, wenn das endgültige Verschwinden aus der politischen Landschaft verhindert und eine Renaissance möglich werden soll:

  1. Die linke politische Theorie muss sich klarmachen, dass die historische Bindung an die Sowjetunion der größte Fehler in ihrer gesamten Geschichte war. Die UdSSR war von Beginn an eine Riesenlüge und keine Räterepublik, sondern die Diktatur einer kleinen elitären Gruppe, die autoritär und mörderisch agierte. Die kommunistischen Parteien in allen Ländern waren Sklaven des jeweiligen Sklavenhalters, der die UdSSR regierte, und setzten dessen Befehle um.
  2. Die politische Linke steht noch heute unter der Fuchtel Russlands, eines Staats, der faschistisch ist, Angriffskriege betreibt, Folterer, Kinder- und Zivilistenmörder und Unterdrücker als Staatsdiener beschäftigt und das Völkerrecht mit Füßen tritt. Wenn die Linke das nicht erkennen kann – leider ist es zurzeit so – ist ihr Untergang in nächster Zukunft gewiss.
  3. Die Linke kann sich nicht mehr als Klassen- oder Schichtenbewegung verstehen, wenn sie das Wirtschafts- und Gesellschaftssystem grundlegend verändern will. Eine solche Veränderung ist nur noch möglich, wenn die materiellen und ideellen Interessen von 99 Prozent der Bevölkerung gegen das eine Prozent der Superreichen und Herrschenden aktiviert werden.
  4. Nur die politische Linke kann es schaffen, diese 99 Prozent politisch zusammenzuführen, also alle Interessen von Minderheiten, zivilgesellschaftlichen, ökologischen, arbeitsorientierten, gewerkschaftlichen, diversen, multiethnischen, feministischen und anderen Gruppen in ein breites, offenes und tolerantes Programm der Veränderung einzubringen, das nur bei Überwindung des Kapitalismus eine Chance auf Realisierung hat.
  5. Für die Bündelung dieser Interessen ist die Erkenntnis grundlegend, dass eine Lösung der beiden wichtigsten Probleme der heutigen Gesellschaft – Verhinderung der Klimakatastrophe und Beseitigung der krassen sozialen Ungleichheit – nur durch ein gezieltes und massives Vorgehen gegen die kapitalistischen Konzerne, die unser Land beherrschen, und zwar auf allen räumlichen Ebenen und in allen gesellschaftlichen Sphären, möglich ist. Die Diktatur der Konzerne muss gebrochen und beendet werden!
  6. Dafür sind wesentlich höhere Steuern für die Unternehmen und die Reichen notwendig und die Eigentumsformen und -verhältnisse müssen schrittweise zugunsten gesellschaftlicher Eigentumsformen wie etwa Genossenschaften und kommunales Eigentum verändert werden. Noch wichtiger für die Bündelung der Interessen der Mehrheit und die Überwindung der Diktatur der Konzerne ist aber die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens, mit dem große Teile der Wirtschaft und viele Menschen der Macht und Herrschaft des großen Kapitals entzogen werden.
  7. Gleichzeitig wird es unausweichlich, dass der Souverän selbst in der Politik die Dinge in die Hand nimmt. Die direkte Demokratie muss in Deutschland auf Bundesebene eingeführt und auf den anderen räumlichen Ebenen erleichtert und vereinfacht werden, sodass die parlamentarische Demokratie zwar nicht abgeschafft, aber doch als alleinige Machtform relativiert wird. Die Bevölkerung muss längerfristig das Recht bekommen, selbst die Gesetze zu machen, und die von ihr gewählten Repräsentanten im Zweifelsfall zu überstimmen, wenn diese sich den Interessen der großen Mehrheit in den Weg stellen. Wenn die direkte politische Kompetenz der Bevölkerung nicht ins Spiel kommt, wird es keine reale Chance auf eine Veränderung des Wirtschaftssystems oder zur Reduzierung der Macht der Konzerne geben.
  8. Der Marxismus muss sich in diesem Kontext als politische Theorie der Linken für alle Ansätze und Gedanken öffnen, die für diese Ziele hilfreich sind und dafür stehen, dass es keine Dogmen und fixierten Lehrsätze in der Politik geben kann. Anarchismus, Feminismus, Ökologie, Liberalismus, Gemeinwirtschaftstheorien, Selbstverwaltungsansätze, aber auch Christentum, Buddhismus, Islam, Judentum und andere Theorien und Religionen liefern viele Gedanken, denen sich linke Theorie nicht verschließen darf, die Kernbestandteile ihres Denkens werden müssen (wobei sie es teilweise schon sind). Und linke Politik muss aktiv davon ausgehen (nicht nur akzeptieren), dass jede Änderung, die in ihrem Sinn ist und zu ihren Zielen passt, jederzeit von der Mehrheit der Bevölkerung wieder verändert und in eine andere Richtung entschieden werden kann – das heißt, die Linke muss sich in jeder Hinsicht demokratisieren. Nichts war an den verblichenen staatssozialistischen Systemen dümmer und reaktionärer als die ewig wiederholte Litanei von der irreversiblen Struktur des Systems im Innern oder in der Außenpolitik; solchen Unsinn kann eine Demokratie niemals äußern.
  9. Linkes Denken muss sich weiterhin von jeglichem autoritärem Denken befreien. Linke Politik kann nur dann nachhaltig und freiheitlich sein, wenn sie darauf zielt, dass alle Institutionen und Ebenen der Gesellschaft in sich demokratisiert werden, wenn also in den Unternehmen die dort Arbeitenden entscheiden, was passiert, wenn in den Schulen Lehrer und Schüler bestimmen, was geschieht, wenn in den Verwaltungen die Mitarbeiter/innen die Abläufe und die Strukturen formen, wenn das Prinzip der Demokratie zum alltäglichen Entscheidungsinstrument wird und die Entscheidungsstruktur durch einzelne Personen, das Prinzip der Einzelleitung, ablöst.
  10. Aufklärung und moderne Technik bleiben weiterhin die materiellen und ideellen Mittel, auf deren Grundlage auch die politische Linke arbeitet, andere stehen uns nicht zur Verfügung. Es gibt weder eine Postmoderne noch eine Nachmoderne. Was die Linke leisten kann, ist eine Gesellschaft, die soziale Gleichheit ohne Gleichmacherei und einen humanen Umgang mit der Natur schafft. Beides sind die unausweichlichen Voraussetzungen für eine Zukunft in Freiheit und Frieden. Das einzige politische Instrument, das dieses ermöglichen wird, ist die Demokratie im umfassenden Sinn, mit einem Kern aus Gleichberechtigung, Toleranz und Innovation. Der heilige Geist der politischen Linken und des Marxismus kann nur Demokratie heißen.

Literatur: Gregory Claeys, Ideale Welten. Die Geschichte der Utopie, Darmstadt 2011; Thomas Piketty, Kapital und Ideologie, München 2020; Urs Marti-Brander, Die Freiheit des Karl Marx. Ein Aufklärer im bürgerlichen Zeitalter, Reinbek 2018; Eva von Redecker, Revolution für das Leben, Frankfurt/Main 2021; Heinz Arnold, Linke Politik. Eine kritische Einführung, Hamburg 2020; Bertrand Russell, Lob des Müßiggangs, München 2019; Karl Reitter, Kritik der linken Kritik am Grundeinkommen, Wien/Berlin 2021; Paul Tiefenbach, Alle Macht dem Volke?, Hamburg 2013; Karlheinz Deschner, Abermals krähte der Hahn. Eine Demaskierung des Christentums von den Evangelisten bis zu den Faschisten, Reinbek 1972; Paul Michel (Hg.), Die jugoslawische Selbstverwaltung, Köln 2020; Der Jugendrat der Generationen Stiftung, Ihr habt keinen Plan. Darum machen wir einen, München 2019.

Dr.HeinzArnold

Abitur in Biedenkopf/Lahn, Studium Anglistik, Politik, Geografie, Philosophie, Soziologie, Pädagogik an den Universitäten Heidelberg und Marburg/Lahn, Promotion Dr. rer. pol. Universität Kassel, Lehraufträge in Geografie und Politik an den Universitäten Trier und Kassel, zahlreiche Buch- und Zeitschriftenveröffentlichungen in Politik, Soziologie und Geografie, in der politischen Linken aktiv seit 1968. Bücher u.a.: Linke Politik - eine kritische Einführung, Hamburg 2020; Gesellschaften, Räume, Geografien, Trier 1997; Disparitäten in Europa: Die Regionalpolitik der Europäischen Union - Analyse, Kritik, Alternativen, Basel/Boston/Berlin 1995; Saar-Lor-Lux/Trier-Westpfalz/Wallonie - Strukturen und Perspektiven einer Europäischen Großregion, Trier 1998; Soziologische Theorien und ihre Anwendung in der Sozialgeografie, Kassel 1988; Aldous Huxley, Brave New World, Berlin 2005 (Hrsg.); Lektüreschlüssel George Orwell, Animal Farm, Stuttgart 2011

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