Vor ein paar Wochen habe ich eine Sendung mit Richard David Precht im ZDF gesehen. Es ging um die große Regression zugunsten von Autokraten und Populisten. Gesprächspartnerin war eine Mitarbeiterin einer nicht universitären politikwissenschaftlichen Einrichtung. Sie rätselten gemeinsam, wie es zum Siegeszug der Rechtskonservativen und Rechtsradikalen weltweit und zur Stabilität der einschlägigen Regimes, zum Beispiel in Russland, China, dem Iran, der Türkei und anderen, kommen konnte. Sie unternahmen auch einen erneuten Versuch, die Erfolge der AfD bei uns zu erklären.
Es war, wie immer, wenn in dieser Sendereihe über Politik diskutiert wird, ein verzweifelter Versuch. Beide beschrieben und beschrieben und beschrieben das, was sie beobachtet, gehört und gelesen hatten. Sie wiederholten den gesamten Sermon, den die heutige politische Wissenschaft und die eng mit ihr verknüpfte staatliche Politik zu diesem Thema äußern. Dieser gebetsmühlenartig vorgetragene und von Banalitäten dominierte Diskurs hat ein entscheidendes Merkmal – er ist vollkommen hilflos. Innenpolitisch werden Politik- und Parteienverdrossenheit, Globalisierungsfolgen, Enttäuschung, Entfremdung, Überforderung und Ähnliches zitiert. Außenpolitisch wird auf das Versagen internationaler Institutionen, mangelndes gegenseitiges Vertrauen, unterschiedliche Identitäten usw. verwiesen. Und manche meinen, viele Menschen seien durch Vielfalt und Multikulturalität überfordert. Insbesondere Ältere, die noch den Systemkonflikt zwischen Ost und West oder zwischen UdSSR und USA erlebt hätten, bis zum Ende der 80er Jahre.
In diesem Kontext waren sich Precht und seine Gesprächspartnerin über eins einig: Der heutige Unterschied zwischen liberalen Demokratien und autokratischen Staaten sei kein Systemkonflikt. Schluss, aus, damit war die Sendung zu Ende. Einerseits passte dieser entsetzlich dumme Satz von Precht bestens zum Rest der Sendung, in der eine Ansammlung von konventionellen, nichtssagenden Phrasen durchratterte wie auf einem Fließband. Andererseits war ich geschockt, dass plötzlich doch noch eine Aussage kam, die beide Teilnehmer*innen komplett diskreditierte. Diese beiden haben von Politik überhaupt nichts verstanden! Sie schwirren mit ihrem Halbwissen knapp über der Grasnarbe durch das politische Geschehen, ohne etwas zu verstehen oder erklären zu können. Sie haben nicht verstanden, dass es heute sehr wohl einen Systemkonflikt im internationalen Staatenkomplex gibt, das ist genau der Gegensatz, bei dem auf der einen Seite die liberalen Demokratien stehen, auf der anderen alle autokratischen, faschistischen und rechtspopulistischen Diktaturen. Zwischen den Systemen von Russland, der Türkei, dem Iran, Ungarn, Saudiarabien, China und anderen einerseits und denen von Schweden, Deutschland, der Schweiz, Spanien, den USA, Kanada, Japan und anderen auf der hiesigen Seite besteht sehr wohl ein Systemkonflikt, und durch das mögliche Hinzukommen weiterer Länder, deren Demokratie ernsthaft in Gefahr ist, zum Beispiel Indien und Pakistan, wird dieser Systemkonflikt noch schärfer werden.
Deshalb muss eindeutig festgestellt werden: Der heutige Systemkonflikt im internationalen System ist der antagonistische Gegensatz zwischen liberalen Demokratien als positivem Pol und autokratischen, faschistischen, rechtskonservativen und rechtspopulistischen politischen Systemen auf der negativen Seite – das ist der zentrale Systemkonflikt heute. Wer diesen Konflikt leugnet, hat von der heutigen Politik nichts verstanden und sollte sich besser mit anderen Themen befassen, denn diese Erkenntnis ist die Basislektion der heutigen Welt, aus der ersten Lektion im ersten Semester über internationale Beziehungen.
Eine Erklärung des Erfolgs der Rechtspopulisten und Faschisten unserer Tage kann nur durch eine nähere Analyse der Folgen des Neoliberalismus gefunden werden. Die Wahlerfolge der Rechten basieren überall, auf allen Erdteilen, darauf, dass die soziale Ungleichheit riesig ist und immer schneller zunimmt, sodass die Unterschichten ständig wirtschaftlich schwächer und ärmer werden. Nationalismus und Demokratiegefährdung beruhen kausal auf der sozialen Ungleichheit, auf dem Verhöhnen der wirtschaftlich Schwachen. Das gilt auch für die Erfolge der halbfaschistischen AfD, für die Rechtsradikalen in Frankreich, Spanien und Italien sowie in Großbritannien, für Trump und Bolsonaro und Orban.
Diese Ursache für den Siegeszug der Reaktion ist auch entscheidend für den internationalen Systemkonflikt. Die Diktaturen und Autokratien sind deutlich ungleicher als die liberalen Demokratien. Entsprechend könnten sowohl nationale Politik als auch internationale Organisationen (zum Beispiel die EU) zum Abbau der sozialen Ungleichheit beitragen und damit dem neuen Faschismus und Rechtskonservatismus die Grundlagen entziehen. Allerdings muss dazu dem Neoliberalismus, der immer noch herrschenden Wirtschaftspolitikströmung, ein rascher Abschied beschert werden. Etwa durch höhere Steuersätze für die Reichen und ein bedingungsloses Grundeinkommen für alle und durch die Umsetzung der Europäischen Sozialcharta in politische Praxis.
Hier liegt der Hund begraben: Die liberale Demokratie hat ihre offene Flanke bloßgelegt; sie kränkelt an ihrer Halbherzigkeit, der Unwilligkeit, die soziale Frage zu lösen und die soziale Ungleichheit zu mindern. Die Moderne ist bis heute halbiert geblieben. Sie hat die Demokratie nur halb verwirklicht, nicht in der Arbeitswelt. Sie spielt mit ihrer Existenz, weil sie ihre volle Verwirklichung verweigert. Diese Lücke schließen jetzt ihre Feinde, die Faschisten und Rechtskonservativen. Wenn die liberale Demokratie nicht ernst macht, wird sie nicht überleben. Das heißt, ihre zukünftige Existenz hängt jetzt davon ab, dass sie sich zu einer liberalen und sozialen Demokratie wandelt. Dafür muss sie sich von den Reichen lossagen und der großen Mehrheit ihrer Bürger widmen, vollständig. Das bedeutet, die Bürger müssen nicht nur durch Plebiszite über die Makropolitik bestimmen, sondern auch in den Teilbereichen der Gesellschaft, durch die innere Demokratisierung aller Institutionen und Arbeitswelten. Wir sind jetzt so weit, dass die Demokratie nur noch überleben kann, wenn sie alle gesellschaftlichen Sphären umgreift. Und wir haben keine Zeit, Zögern und Abwarten werden sofort bestraft. Die Rechten zögern nicht, sie nutzen jede Gelegenheit.
Literatur: Heinz Arnold, Linke Politik. Eine kritische Einführung, Hamburg 2020; Friedhelm Hengsbach, Was ist los mit dir, Europa? Für mehr Gerechtigkeit, Frieden und Solidarität, Frankfurt/Main 2017; Ulrike Guérot, Der neue Bürgerkrieg. Das offene Europa und seine Feinde, Berlin 2017; Hartmut Kaelble, Wege zur Demokratie. Von der Französischen Revolution zur Europäischen Union, Stuttgart/München 2001; Klaus Ottomeyer, Angst und Politik. Sozialpsychologische Betrachtungen zum Umgang mit Bedrohungen, Gießen 2022.