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Deutschland in der Krise

Die deutsche Einheit, die 1990 hergestellt wurde, hatte weder in Westdeutschland noch in der DDR eine Mehrheit der Bevölkerung hinter sich, aber es gab eine Mehrheit in der Politik. Diesen Widerspruch hatte es in etlichen zentralen Momenten der Bundesrepublik schon vorher gegeben und er wurde meistens im politischen System und nicht im Sinn der Bevölkerungsmehrheit aufgelöst. Ohne diese Einheit ginge es den Westdeutschen wesentlich besser und die frühere DDR wäre heute ein eigenständiger, wohlhabender und demokratischer Staat, kein Beitrittsgebiet. Beide Seiten haben für die deutsche Einheit einen sehr hohen Preis bezahlt, einen viel zu hohen. Für keine der beiden Seiten hat sie sich gelohnt, weder materiell noch ideell. Der Wohlstand in Westdeutschland hat unter der Einheit sehr gelitten und im Osten ist das ohnehin geringe Selbstvertrauen stark gesunken. Das heutige Deutschland ist in seinem Gesamtzustand weit hinter die Bundesrepublik von 1989 zurückgefallen und steckt in einer tiefen, umfassenden und nur sehr schwer zu überwindenden Krise, in allen Lebensbereichen, in Wirtschaft, Politik und Kultur. Es ist die tiefste Krise des Landes seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs.

Der erste Indikator dieser Krise ist zweifellos der Aufstieg der AfD, einer Partei, in der sich Faschisten, Neu- und Altnazis, Reichsbürger, Nationalisten, Rechtsextreme, Rechtskonservative, Deutschnationale und Demokratiefeinde aller Art versammeln. Die Krise ist der erste Erklärungsfaktor für die Position der AfD auf Platz zwei der Wahlumfragen; es ist kein Wunder, dass sie hochkommt, denn auch der Aufstieg der NSDAP basierte vor allem auf der schwersten Krise jener Zeit, der Weltwirtschaftskrise von 1929/32 mit verheerenden Folgen für die Menschen im Land. Insofern wiederholt sich die deutsche Geschichte hier tendenziell, aber nicht gesetzmäßig oder automatisch.

Die Krise hat viele einzelne Elemente, die alle gleichzeitig wirken und sich gegenseitig verstärken. Die deutsche Industrie ist geschwächt und hat viele strukturelle Probleme – nicht nur die Autoindustrie. Es fehlt an qualifizierten Arbeitskräften und an einem konsequenten Konzept für den Übergang in das digitale und ökologische Zeitalter, alles bleibt im Status eines Flickenteppichs, der ständig neue Löcher bekommt, weil auf einen Schritt nach vorn mindestens einer rückwärts folgt und die Politik mutlos agiert, die Wirtschaft selbst aber im Status quo stecken bleibt.

Die Einkommen der Bevölkerungsmehrheit stagnieren seit Jahren, für viele sind sie gesunken. Die Inflation der letzten Jahre war hoch und hat vielen die Taschen geleert. Wer kann, spart und der Konsum geht zurück. Soziale Ängste und Zukunftsangst haben enorm zugenommen, nicht nur durch die Coronakrise, sondern auch durch die insgesamt seltsam unsicher erscheinende Lage in Deutschland. Die gesamte öffentliche Atmosphäre ist irgendwie bedrohlich. Fast täglich gibt es neue Meldungen über Messerstecherattacken und terroristische Aktionen. Die Armutsquoten von Kindern und Erwachsenen steigen weiter, die soziale Ungleichheit wird stärker. Das Denken vieler Deutscher ändert sich, kaum jemand glaubt noch an eine Zukunft als Fortschritt, erwartet werden eher Gefahren und Einschränkungen. Viele Teile der Gesellschaft sind akut gefährdet, zum Beispiel die Infrastruktur. Straßen und Brücken sind in schlechtem Zustand, der Einsturz der Brücke in Dresden ist nur ein Mosaikstein des Problems. Tatsächlich ist offenbar die Hälfte aller Brücken in Deutschland nicht in Ordnung; das bedeutet letztlich, dass für viele im Land Lebensgefahr bestehen könnte, wenn sie eine überqueren – dass in Dresden niemand zu Schaden kam, war ein reiner Zufall. Über die Situation der Infrastruktur wird seit Jahrzehnten diskutiert, aber es passiert nichts. Vor allem deshalb, weil mit der Schuldenbremse verhindert wird, dass das Land wirtschaftlich seine Qualität in den zentralen Lebensbereichen erhalten kann. Deutschland ist im Vergleich mit anderen Ländern nur gering verschuldet, aber bei uns werden die notwendigsten Investitionen mit dem Verweis auf diese Bremse unterlassen. Im Kern funktioniert sie in der Krise, die riesige staatliche Investitionen unbedingt erforderlich macht, als Lebensqualitätsbremse und als Wirtschaftsbremse.

Der Blick nach außen richtet sich vor allem auf die Bedrohung durch die aggressive russische Diktatur, den Folterstaat im Osten, das heutige atomar bewaffnete Bollwerk des internationalen Faschismus, mit dem übelsten Kinder- und Massenmörder des 21. Jahrhunderts an der Spitze, seinem “Präsidenten”, seinem Führer in der Spur Adolf Hitlers.

Schule und Bildung erleben keinerlei neuen Schwung, es wird ein nicht nachvollziehbares ‘Weiter so’ betrieben, obwohl alle Beteiligten wissen, dass die Grundlagen nicht gewährleistet sind. Es fehlen Lehrer, es fehlen Finanzmittel, es gibt keine digitale Infrastruktur, es gibt keine Reformideen. Das Dreiklassensystem aus Hauptschule, Realschule und Gymnasium wird nicht überwunden, obwohl alle wissen, dass es die Ursache für die Ungleichheiten ist, die unser Bildungssystem seit Kaiser Wilhelm produziert – die oberen Einkommensgruppen werden privilegiert, die unteren benachteiligt, und zwar bis zum Hochschulabschluss. Wo bleibt die Integrierte Gesamtschule als einzige und verpflichtende Schule mit zehn Klassen für alle?

Wie schwach ist der Anlauf zur ökologischen Umgestaltung geworden? Wo bleiben die niedrigeren Preise für die erneuerbaren Energien? Was hat die Ampel in diesem Bereich angekündigt, was hält sie ein? Warum müssen die Menschen die Umorientierung auf weniger CO2-Ausstoß bezahlen, während die Energiekonzerne riesige Gewinne machen, weil ihre Strompreise vollkommen übersteigert sind, nicht nur für die Privathaushalte, sondern auch für Industrie und Dienstleister? Wie kann es sein, dass die Energiekonzerne als die bisherigen CO2-Verursacher am Ende auch wieder gewaltig vom Übergang zu den erneuerbaren Energien profitieren?

Die Entwicklung der Medien, insbesondere des Internets und der sogenannten sozialen Medien, ist abstoßend. Wie kann es sein, dass Beleidigungen, Hass, Mord- und Gewaltdrohungen, ekelhafte Propaganda, Rassismus und Sexismus, Verachtung der Menschenrechte und andere nicht tragbare Äußerungen im Internet und in aller Welt verbreitet werden können? Wieso gelten die Vorschriften und Mechanismen, die in den Printmedien und im Fernsehen wie im Radio gelten und durchgesetzt werden, um solche Verlautbarungen zu verhindern, nicht auch im Internet? Wieso wird die Meinungsfreiheit nicht geschützt und stattdessen eine Art von nihilistisch-faschistischer Veröffentlichungsfreiheit hingenommen, bei der die Würde der Menschen auf der Strecke bleibt? Wieso werden Google und Microsoft und wie sie alle heißen nicht gezwungen, ihre Seiten so zu gestalten, dass sie dieselbe Meinungsfreiheit bieten wie jede Tageszeitung in der Demokratie? Behauptet jemand ernsthaft, das sei nicht möglich? Es ist politisch nicht gewollt!

Das Wohnungsproblem ist drückend. Deutschland hat ein Riesenproblem in diesem Bereich. Millionen Wohnungen auf dem Land stehen leer, in den Großstädten fehlen viele, besonders für Menschen mit geringem Einkommen. Unter den Bedingungen der Erderwärmung aber ist jeder Bauplan in einer Großstadt eine Katastrophe. Städte sind schon heute Wärmeinseln mit bis zu fünf Grad höheren Temperaturen als in der Umgebung. Jedes neue Baugebiet heizt die Erderwärmung an, wenn es in einer Großstadt liegt. Deshalb verbieten sich auch soziale Wohnungsbauprojete in den Großstädten. Hinzu kommt, dass die Gegensätze von Stadt und Land immer stärker werden. Dazu gibt es etliche sorgfältige Untersuchungen, die die Situation präzise beschreiben, aber es gibt keine politische Strategie. Dabei haben wir viele Klein- und Mittelstädte, die nicht weniger Lebensqualität bieten als die Metropolen und für einen Ausbau bestens geeignet sind. Es gibt Dörfer in den ländlichen Räumen, die ohne Weiteres zu Zentren erweitert werden könnten, wenn die Politik von Bund und Ländern das Thema endlich praktisch bearbeiten würde. Solche Orte in den ländlichen Gebieten müssen finanziell, politisch und kulturell gefördert werden, um die weitere Metropolisierung zu stoppen, die die Erderwärmung verschärft und die verheerenden Ballungen aller sozialen und wirtschaftlichen Faktoren auf kleinstem Raum potenziert. Hier ist die Politik dringend aufgefordert, nicht nur Anreize einzusetzen, sondern selbst Einrichtungen im ländlichen Raum zu platzieren und Investoren regional zu zwingen, bestimmte Standorte zu belegen. Es kann nicht sein, dass ein Großunternehmen eine große neue Forschungseinrichtung direkt in einer Metropole ansiedelt, obwohl diese Einrichtung überhaupt keine Standortfaktoren aus der Metropole benötigt und genauso gut dreißig oder vierzig Kilometer weiter in einer Kleinstadt funktionieren kann. Denn das entscheidende Mittel für die Entwicklung der ländlichen Räume und den Stopp der weiteren Erderwärmung in den Großstädten ist die Ansiedlung von Arbeitsplätzen. Und das können auch staatliche Institutionen sein – wie viele Bundesbehörden wurden im Verlauf der deutschen Einigung auf neue Standorte verlegt? Wie viele staatliche Einrichtungen in den Landeshauptstädten könnten ohne Abstriche in Klein- oder Mittelstädten des jeweiligen Bundeslandes arbeiten und damit die lokale Entwicklung anstoßen?

Die Bundesregierung hat das Schengener Abkommen für sechs Monate gekündigt. Damit weicht sie vor der widerlichen Agitation und den Stimmenfängen der AfD zurück und setzt die Wünsche der Rechtsradikalen in die Praxis um. Sie behauptet, sie wolle das Migrationsproblem lösen. Einschlägig forschende Demografen stellen fest, dass mit den Grenzkontrollen die illegale Migration nicht geringer, sondern eher stärker wird. Deutschland geht mit der Axt an den Kern der Freiheiten der Europäischen Union und unterwirft sich den Forderungen der Europafeinde. Das ist der politische Höhepunkt der gegenwärtigen Krise. Die politische Führung hat jedes Maß verloren, schließt sich den Ideen der Rechtsextremisten an und reduziert die europäische Freiheit für die Menschen und ihr Alltagsleben. Hier zeigt sich am offensten, wie tief die Krise in unserem Land schon jetzt geht und dass es höchste Zeit ist, die Richtung zu ändern. Alle wissen, dass wir ein Einwanderungsgesetz für Menschen aus Drittstaaten brauchen und dass wir Asyl nur den wirklich Berechtigten gewähren. Ich kann nicht verstehen, dass die Politiker dieses seit Jahrzehnten bestehende Problem nicht lösen können. Ich glaube, sie wollen es nicht lösen, denn es gibt ausreichend Beispiele von Ländern, die es konsequent und human gelöst haben, zum Beispiel Kanada, Australien, die Schweiz und andere. Sie zeigen, dass ein Staat nur dann seine BürgerInnen repräsentiert, wenn er eine selektive Einwanderungspolitik betreibt und die Selbstbestimmung des eigenen Landes sichert, im Kontrast zu einem heuchlerischen Kosmopolitismus, in dem alle und alles angeblich überall gleichgewichtig sind. Sind unsere Politiker, verglichen mit den Politikern dieser Länder, so unfähig? Sie sollten sich an Mills Theorie halten, wonach von der Politik das gemacht werden sollte, was die Menschen tatsächlich wollen.

Genau diese These berührt das Herz unserer Krise. In diesem Land geschieht schon viel zu lange und in zu vielen Bereichen und Feldern genau das, was die Bevölkerungsmehrheit nicht will. Die auf der Hand liegenden und weithin bekannten Probleme werden nicht bearbeitet geschweige denn gelöst. Das ist der riesengroße Untergrund einer nicht adäquat handelnden Politik, die alle Instrumente zur Lösung der Schwierigkeiten zur Verfügung hat, diese aber nicht gezielt und konsequent einsetzt – der beste Nährboden für den Aufstieg einer Partei wie der AfD und die immer schwächer werdende Zustimmung aus der Bevölkerung für die Politiker und ihren Umgang mit den Mitteln, die ihnen das politische System, als eigentlich hervorragender Handlungsbaukasten, anbietet.

Literatur: Heinz Arnold, Linke Politik. Eine kritische Einführung, Hamburg 2020; Die Bundesregierung, Politik für gleichwertige Lebensverhältnisse. Zwischenbilanz der 19. Legislaturperiode, Berlin 2021; Jens Berger, Wem gehört Deutschland? Die Bilanz der letzten 10 Jahre, Frankfurt/Main 2024; Christian Neuhäuser, Reichtum als moralisches Problem, Berlin 2018; Hannes Hofbauer, Kritik der Migration. Wer profitiert und wer verliert, Wien 2018; David Miller, Fremde in unserer Mitte. Politische Philosophie der Einwanderung, Berlin 2019.

Dr.HeinzArnold

Abitur in Biedenkopf/Lahn, Studium Anglistik, Politik, Geografie, Philosophie, Soziologie, Pädagogik an den Universitäten Heidelberg und Marburg/Lahn, Promotion Dr. rer. pol. Universität Kassel, Lehraufträge in Geografie und Politik an den Universitäten Trier und Kassel, zahlreiche Buch- und Zeitschriftenveröffentlichungen in Politik, Soziologie und Geografie, in der politischen Linken aktiv seit 1968. Bücher u.a.: Linke Politik - eine kritische Einführung, Hamburg 2020; Gesellschaften, Räume, Geografien, Trier 1997; Disparitäten in Europa: Die Regionalpolitik der Europäischen Union - Analyse, Kritik, Alternativen, Basel/Boston/Berlin 1995; Saar-Lor-Lux/Trier-Westpfalz/Wallonie - Strukturen und Perspektiven einer Europäischen Großregion, Trier 1998; Soziologische Theorien und ihre Anwendung in der Sozialgeografie, Kassel 1988; Aldous Huxley, Brave New World, Berlin 2005 (Hrsg.); Lektüreschlüssel George Orwell, Animal Farm, Stuttgart 2011

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