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Multipolare Welt?

Heute wird viel von einer multipolaren Welt gesprochen. Dieser Eindruck mag sich anbieten, der Realität wird er nicht gerecht. Die USA sind politisch, wirtschaftlich, militärisch und kulturell noch immer die Großmacht Nummer eins auf der Erde, das ist durch viele Zahlen und Daten belegt und wird sich so schnell nicht ändern. Ob es gut ist, kann nicht mit einem direkten Ja oder Nein beantwortet werden. Jedenfalls gibt es für kein Land auf diesem Planeten das Recht, allen anderen Ländern voraus oder überlegen zu sein, das steht für mich fest. Allerdings kann festgehalten werden, dass die USA zu den heutigen Großmächten gehören, die demokratisch sind, das ist eindeutig ein Pluspunkt. Ein weiterer positiver Aspekt ist, dass seit der Präsidentschaft Obama dem Wunsch der Mehrheit der US-Bürger entsprochen wird, nicht länger als oberste Ordnungsmacht oder Weltpolizei aufzutreten und die US-Politik auf das Land selbst auszurichten.

Damit stellt sich gleich die Frage, welche Großmacht denn noch demokratisch sein soll. Das ist die Großmacht, die offensichtlich nicht weiß, dass sie eine ist. China? Russland? Der Begriff demokratisch ist dafür vollkommen verfehlt. Es handelt sich um eine faschistische Diktatur – Russland – und eine halbfaschistische, rot kaschierte Diktatur – China – damit ist schon alles gesagt. Beides große Länder, aber frei von jeglichem wirklichen demokratischen Impuls, jeder demokratischen Struktur, angeführt von FÜHRERN, die in den für Millionen tödlichen Spuren ihrer Vorgänger Hitler und Stalin laufen und über die sich nur erhoffen lässt, das sie baldmöglichst verschwinden. Nein, die zweite demokratische Großmacht ist natürlich die Europäische Union, und sie ist eindeutig zugleich die demokratischste unter den Großmächten.

Dass sie zweifellos eine Großmacht ist, obwohl sie es nicht weiß oder nicht wissen will, zeigen die Zahlen in jeder Hinsicht – 450 Millionen Einwohner, ein hohes Einkommen pro Einwohner, eine große Zahl von Soldaten und Waffen, gewaltige kulturelle und politische Leistungen. Vielleicht sind Zweifel an der Definition als Großmacht erlaubt, aber nur angesichts der riesigen Vielfalt des gesamten, einmaligen politischen Gebildes. 27 verschiedene Nationen, etliche davon noch mit vielfältigen föderalen und kommunalen Untergliederungen, wobei manche Regionen fast autonomen Status aufweisen, zwanzig verschiedene Amtssprachen, Hunderte Regionalkulturen – das alles mag auf den ersten Blick wie ein riesiges Mosaik erscheinen, in dem kein Steinchen dem anderen gleicht. Und doch ist diese Großmacht seit vielen Jahren zusammen und in vielerlei Hinsicht handlungsfähig und handelt und agiert auch, nicht nur im Innern, sondern zunehmend auch nach außen. Diese Großmacht kann, wenn sie sich weiter demokratisiert, föderalisiert und dezentralisiert, zu einer werden, auf die der Begriff demokratisch wirklich zutreffen könnte.

Verglichen mit der Präsidialdemokratie USA ist die EU weitaus demokratischer, denn die USA sind eine Form von indirekter Demokratie – als parlamentarische Demokratie – die von einer einzelnen Person entscheidend bestimmt wird, im Präsidentenamt. Damit hat die EU real eine ganz andere demokratische Qualität als die USA und mittelfristig die Chance, als erste wirklich demokratische Großmacht in die Geschichte einzugehen. Das wird aber nur möglich sein, wenn es ihr gelingt, alle in die Schranken zu weisen, die heute wieder vom großen Auferstehen der Nationen schwadronieren, von der Macht der Autokraten träumen und verhindern wollen, dass ein Europa entsteht, das von der Spitze bis in die Basis demokratisch und dezentral reguliert ist, in dem die Bürger auf allen Ebenen das letzte Wort haben – also Volksabstimmungen entscheiden sind – und in dem Mehrheiten bestimmen, ohne dass Minderheiten benachteiligt werden.

Dieses Europa hat heute noch ein wesentliches Defizit: Seine wesentlichen politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen stehen weiterhin im Bann des Neoliberalismus und des Spätkapitalismus. Es hat noch keine sozialpolitische Kompetenz und überlässt die soziale Ungleichheit der Politik der einzelnen Staaten. Das ist die nächste und dringendste Zukunftsaufgabe der EU – die soziale Ungleichheit massiv zu reduzieren und die Macht der Konzerne in Europa zu brechen, die Macht des einen Prozents, das weithin dominiert und die Interessen der anderen 99 Prozent überspielt. In diesem sozialökonomischen Kernbereich ist die EU noch längst nicht so pluralistisch und vielfältig wie in Kultur und ziviler Gesellschaft, wie in Landschaft und Architektur.

Wenn heute über eine multipolare Welt diskutiert wird, höre ich immer nur Gedankenspiele darüber, wie toll sich angeblich China entwickelt und dass die USA im Niedergang begriffen sind. Von der Großmacht EU redet niemand. Niemand begreift offenbar, auch Europa selbst nicht, dass die EU in der vielleicht kommenden multipolaren Struktur die besten Karten hat, um für alle anderen Länder, nicht nur für die USA, China oder Russland, zum Vorbild zu werden – aus der Sicht von Demokratie, Pluralität, Mitbestimmung der Bürger und kultureller Vielfalt. Um sich diese Möglichkeit zu bewahren, muss das heutige Europa tatsächlich auch militärisch auf der Hut sein und anfangen, seine militärischen Ressourcen zusammenzufügen, denn der aggressive Faschismus des 21. Jahrhunderts steht vor unserer Haustür, in Form der russischen Diktatur, die vor Mordlust und Demokratiehass nur so trieft. Europa muss sich daran erinnern, dass seine grundlegendste demokratische Wurzel der Antifaschismus ist und bleibt.

Insofern muss auch leider darauf hingewiesen werden, dass es Europa in zu vielen Aspekten und Bereichen an einem sehr wichtigen Merkmal von politischer Intelligenz mangelt – an dringend nötiger Selbstreflexion. Das heutige Europa nimmt sich selbst nicht genügend wahr, es erkennt sein tatsächliches Spiegelbild nicht, es verkennt sein Potenzial und leidet an einer gewaltigen Selbstunterschätzung. Das muss sich ändern!

Dr.HeinzArnold

Abitur in Biedenkopf/Lahn, Studium Anglistik, Politik, Geografie, Philosophie, Soziologie, Pädagogik an den Universitäten Heidelberg und Marburg/Lahn, Promotion Dr. rer. pol. Universität Kassel, Lehraufträge in Geografie und Politik an den Universitäten Trier und Kassel, zahlreiche Buch- und Zeitschriftenveröffentlichungen in Politik, Soziologie und Geografie, in der politischen Linken aktiv seit 1968. Bücher u.a.: Linke Politik - eine kritische Einführung, Hamburg 2020; Gesellschaften, Räume, Geografien, Trier 1997; Disparitäten in Europa: Die Regionalpolitik der Europäischen Union - Analyse, Kritik, Alternativen, Basel/Boston/Berlin 1995; Saar-Lor-Lux/Trier-Westpfalz/Wallonie - Strukturen und Perspektiven einer Europäischen Großregion, Trier 1998; Soziologische Theorien und ihre Anwendung in der Sozialgeografie, Kassel 1988; Aldous Huxley, Brave New World, Berlin 2005 (Hrsg.); Lektüreschlüssel George Orwell, Animal Farm, Stuttgart 2011

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