Jörg Himmelreich, Die deutsche Russland-Illusion. Die Irrtümer unserer Russland-Politik und was daraus folgen sollte, Köln 2024. 352 Seiten, 24.- Euro.
Das Jahr hat nur noch ein paar Wochen, da überlege ich mir mal, welches Buch mich 2024 am stärksten beeindruckt hat. In den elfeinhalb Monaten hab ich wie immer viel gelesen, aber das war kein Rekordjahr, vielleicht 100 Bücher, weniger als sonst. Neben meinem Hauptthema, das eigentlich das Thema meines Lebens ist – soziale Ungleichheit – befasse ich mich seit Februar 2022 vor allem mit dem Krieg in der Ukraine. Dazu konnte ich schon viel Unsinn, viel Ideologisches lesen, aber auch einige gute Bücher, etwa von Sabine Adler oder Sabine Fischer, journalistische Werke mit vielen Fakten und der richtigen Spitze gegen die Putin-Mafia. Und unübertroffen bleiben natürlich die fantastisch gut begründeten historischen und aktuellen Analysen sowie Statements von Timothy Snyder, der zeigt, wie sehr die Ukraine im Rahmen des Russland-Mythos, insbesondere des deutschen Russland-Mythos, ignoriert wurde und wie absurd die Darstellungen von Russland als ewigem Opfer des Rests der Welt, insbesondere Westeuropas, sind. Russland ist der Täter, das Land, das überall auf der Welt gegen Demokratie und Humanität mordet und hetzt, mit allen Methoden und Mitteln, kooperierend mit Faschisten, Rechtsextremen und Freiheitsfeinden aller Art, ohne jeden Skrupel. Und das seit mehr als 500 Jahren!
Das Buch Himmelreichs hat zwei Ziele. Es will zeigen, wie verfehlt und irreführend die Ideen und Annahmen des deutschen Russland-Komplexes sind und wie notwendig ein neues Russlandverständnis für eine neue deutsche Politik gegenüber Russland ist.
Diese Ziele werden durch zehn Kapitel verfolgt: 1) Putins Machtaufstieg und die Fehleinschätzungen deutscher Russlandpolitik unter Kanzler Schröder; 2) Die Merkelregierungen; 3) Kern-Irrtümer deutscher Russlandpolitik; 4) Der deutsche Russland-Komplex – eine historische und kulturelle Spurensuche; 5) Peter der Große und Russlands Orientierungen nach Europa; 6) Der deutsche Russland-Komplex und seine historische Verankerung; 7) Kulturelle Komponenten des deutschen Russland-Komplexes; 8) Die heutigen deutschen Parteien und Russland; 9) Akademische und mediale Fehleinschätzungen mit Blick auf das deutsche Russland-Bild; 10) Folgen für die deutsche Außenpolitik.
Der Autor belegt durch zahllose Aspekte und Argumente, dass die Perspektive der Russlandfreunde, derjenigen, die den Ukraine-Krieg Russlands entschuldigen und verteidigen, in sämtlichen Punkten falsch ist. Denn der traditionelle deutsche Blick auf Russland ist mehr auf den Glauben an dessen Politik, Geschichte, Kultur und Wirtschaft gebaut, anstatt dieses Land rational zu analysieren. Folge dieser Sichtweise ist eine blinde, rein emotionale deutsche Verklärung Russlands. Die lange Phase der Schröder- und Merkelregierungen war durch den Irrglauben bestimmt, Russland sei an einer europäischen und internationalen Sicherheitsstruktur im Interesse des Völkerrechts interessiert. Tatsächlich ist Putin und seiner Kamarilla das Völkerrecht genauso egal wie eine internationale Systematik von Sicherheit.
Himmelreichs Buch ist von einer erstaunlichen Klarheit in der Analyse von Politik und Geschichte sowie bei den Vorschlägen für die künftig notwendige vollständige Kehrtwende der deutschen und europäischen Russlandpolitik. Zum Beispiel gegenüber der nicht nur in dieser Thematik komplett gescheiterten ehemaligen Bundeskanzlerin Merkel: “Nicht die Krim-Annexion von 2014, sondern die Verweigerung des NATO-Beitrittsverfahrens ist der entscheidende historische Moment in der Vorgeschichte zu Putins Invasion in die Ukraine: ohne 2008 kein 2022. Deswegen lud der ukrainische Präsident Selenskyj Merkel und Sarkozy dazu ein, Butscha zu besuchen und zu sehen, wohin ihre ‘Appeasement’-Politik gegenüber Putin geführt hat. Zu Recht! Denn in der Tat ist Merkels Veto eine ‘conditio sine qua non’, eine nicht wegzudenkende Ursache, für Putins Invasion in die Ukraine und für seine Kriegsverbrechen an den Kindern und der übrigen ukrainischen Zivilbevölkerung, über die täglich berichtet wird” (S. 81).
Eine der übelsten Lügen der deutschen Putinfreunde, auch kräftig von den deutschen Putinparteien AfD, BSW und Linke verbreitet, das Märchen von der Osterweiterung der NATO, wird präzise widerlegt. Die nach 1990 unvermeidliche Aufnahme neuer Länder aus Mittel- und Osteuropa in die NATO erfolgte aufgrund deren miserabler Erfahrungen mit der Besatzungs- und Unterdrückungsmacht UdSSR, der russisch dominierten Kolonialmacht, die nach 1945 den Sieg der Roten Armee über die Nazi-Wehrmacht nicht zu einer Befreiung werden ließ, sondern die faschistische Diktatur direkt durch eine pseudosozialistische ersetzte. Es muss hier ausreichen, beispielsweise auf die antidemokratischen Aktionen der UdSSR 1948 in der Tschechoslowakei und Polen, die Niederschlagung der Volksaufstände 1953 in der DDR und 1956 in Ungarn, den Einmarsch in die CSSR 1968 sowie die Notstandsdiktatur in Polen 1981 hinzuweisen – Handlungen, mit denen die UdSSR sich tief in das Gedächtnis der Menschen in diesen Ländern einpflanzte, allerdings als direkte Lebensgefährdung, die sie nie mehr vergessen würden. Sie wussten genau, warum sie sich vor der chauvinistischen Großmacht in der Nachbarschaft militärisch schützen mussten, wenn sie nie mehr solche widerlichen Diktaturen und Invasionen erdulden wollten. Für Estland, Lettland, Litauen und Finnland liegt der entscheidende Moment im Verhältnis zum russischen Imperialismus noch etwas weiter zurück; das Baltikum wurde 1940 einfach okkupiert und in die UdSSR hinein russifiziert, während Stalins grausige Rote Armee 1939 gegen das kleine Finnland eine krachende Kriegsniederlage erlebt hatte. Und bis heute hat niemand in Polen vergessen, dass der Zweite Weltkrieg nicht von Hitlerdeutschland allein begonnen wurde – wenige Tage nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht brach die sowjetische Armee über Polen herein und besetzte dessen östliche Hälfte, in Absprache mit Hitler und seiner Diktatur, sodass letztlich der Zweite Weltkrieg von Deutschland und der UdSSR gemeinsam begonnen wurde, nicht von den Deutschen allein.
Vor diesem Hintergrund war es eindeutig, warum diese Länder in die NATO wollten, so schnell wie möglich. Sie hatten und haben aus guten Gründen, wie der russische Überfall auf die demokratische Ukraine zeigt, Angst vor dem russischen Großmachtchauvinismus und seiner unbegrenzten Aggressionswut. Sie wurden nicht von der NATO angeworben oder aufgefordert, ihr beizutreten, im Gegenteil, die NATO hat diese Beitritte wenig begeistert angenommen und lange verzögert, aber sie konnte sie nicht ablehnen, weil ihr die Tatsachen nur zu gut bekannt waren. Es war ein Elend der Geschichte, dass das Ende des Faschismus 1945 zusammenfallen musste mit dem Sieg einer anderen Diktatur, die nicht weniger brutal und mörderisch war als die faschistische und die keine Sekunde zögerte, den eroberten Gebieten sofort ihre terrorische Diktatur aufzuzwingen und alle diese Länder auf Jahrzehnte hin zu versklaven und in Armut und Rückständigkeit zu halten, während sie selbst zur Supermacht wurde, quasi von Adolf Hitlers Gnaden, denn ohne dessen Überfall wäre die Sowjetunion niemals so groß und so mächtig geworden. Dabei maßte sie sich in konsequent kolonialistischer Manier an, Mittel- und Osteuropa, ihre neu eroberten Gebiete, als Einflusssphäre zu betrachten und ihrem chauvinistischen Großmachtbereich einzuverleiben. Die Großrussen waren nach 1945 für viereinhalb Jahrzehnte auf dem historischen Höhepunkt ihres brutalen Großreichs. Das ist der Grund, warum sie heute durch ihren faschistischen Sprecher, den Führer Putin, ständig ihr Bedauern über das Ende der sogenannten Sowjetunion hinausjammern.
Natürlich wird auch gezeigt, wie die schlimmsten Versager in der deutschen Russlandpolitik, Merkel, Schröder und Steinmeier mit dem Projekt Nord Stream2 die für Deutschland katastrophale Nähe zu Russland und seinem vor Mordlust strotzenden Diktator bis zum Ende immer weiter fortgesetzt und damit das ganze Land in eine sehr kritische Lange gebracht haben, nicht nur politisch und ideell, sondern auch im Bereich der Energieversorgung. Man muss dem Oberfaschisten Putin vielleicht sogar dankbar sein, dass er schließlich die russischen Gaslieferungen an Deutschland gestoppt und die Berliner Politiker damit gezwungen hat, sich endlich aus der Energieabhängigkeit vom schlimmsten Schurkenstaat des Globus zu lösen.
Der Scherbenhaufen deutscher Russlandpolitik ist durch einige zentrale Irrtümer auf unserer Seite entstanden; ich muss gestehen, dass ich vor der Lektüre von Timothy Snyder selbst einige Illusionen über Russland, seine Friedensbereitschaft und seine Glaubwürdigkeit hatte, vermutlich, weil diese Illusionen traditioneller Teil des Denkens von Linken und auch Sozialdemokraten in Deutschland waren (und weithin immer noch sind, leider, denn die Tatsachen haben diese Illusionen weggefegt). Ein großes Missverständnis ist in diesem Kontext zum Beispiel, dass die heutige diktatorische Struktur Russlands und die extrem brutale Kriegsführung in der Ukraine allein der Person oder der Boshaftigkeit Putins zugeschrieben werden. Das System, das hier Krieg führt, gegen die Demokratie und für die Diktatur, mit Waffen unter anderem in der Ukraine, in Georgien, in Syrien, in Tschetschenien, aber virtuell auf allen Kontinenten und in allen Ländern der demokratischen Welt, ist ein Folterstaat, in dem Geheimdienstler die Verwaltungen beherrschen, in dem die Mafia die Struktur der Wirtschaft bestimmt, in dem Polizei, Militär und Geheimdienste jede Form von Bürger- und Menschenrechten verhindern und das eigentlich nur eine Definition verdient: Das heutige Russland ist ein faschistischer Staat, ein faschistisches Land, in dem eine Diktatur besteht, die von einer Mehrheit der Bürger/innen unterstützt und getragen wird. Es ist überhaupt nicht absehbar, dass diese Diktatur im Innern oder nach außen irgendwie wackeln wird, weshalb es eine wirklich neue Russlandpolitik Deutschlands und der EU geben muss, wenn beide nicht zum Opfer dieser Diktatur werden sollen, durch eine umfassende militärische oder politische Niederlage gegen das verachtenswerte Russland unserer Zeit. Russland ist heute eine große und reale Gefahr für das, was Karl Marx zu Lebzeiten als sein wichtigstes Ziel verfolgt hat: die bürgerlichen Rechte und Freiheiten der ganz gewöhnlichen Bürger/innen in Europa. Russland bereitet sich laut eigenen wiederholten Erklärungen darauf vor, Europa in fünf Jahren militärisch anzugreifen. Kann man das glauben? Nein, denn fast alles, was die Russen äußern, ist gelogen. Ich glaube ihnen, dass sie uns angreifen werden, aber nicht erst in fünf Jahren, sondern deutlich früher. Die russischen Lügen sind wie eh und je – so verlogen, dass nicht einmal das Gegenteil wahr ist.
Der Verfasser begründet die Notwendigkeit einer anderen Russlandpolitik mit vier Irrtümern deutscher Außenpolitik nach 1945: 1) Man hat den Russen viel Hilfe geboten, bis weit über das Jahr 2000 hinaus, und an ihren Friedenswillen geglaubt, trotz ihrer teuflischen Handlungen in Ost- und Mitteleuropa bis 1991. 2) Man glaubte, Wirtschaftsbeziehungen mit Russland würden das Land der Demokratie näherbringen. 3) Man hat nach 1991 angenommen, Russland wolle sich Europa annähern. 4) Deutschland ging lange von der Hypothese aus, europäische Sicherheit könne es nur mit und nicht gegen Russland geben. Himmelreich stellt korrekt fest, dass diese Glaubenssätze, die noch von vielen hierzulande vertreten werden, heute allerdings wider besseres Wissen, “in Schutt und Asche liegen” (S. 157).
Besonders verdienstvoll sind Himmelreichs historische Perspektiven. Er verweist nicht nur auf die vielfältigen Verbindungen zwischen den jeweiligen deutschen und russischen Reichen vor dem Ersten Weltkrieg, sondern auch nachdrücklich auf eine von Marx intensiv herausgestellte spezielle Strukturkomponente Russlands, die nicht nur die mindestens 500 Jahre der russischen Diktatur begründet hat; sie ist auch immer noch wirksam, denn die Brutalitäten in Butscha und anderen Orten der Ukraine stehen in einer unverwechselbaren Tradition, der Brutalität der mongolischen Vorgeschichte Russlands, der historischen Entwicklung Russlands als orientalische und asiatische Despotie, an die Putins schändliches System nicht nur indirekt anschließt. Folter, Todesstrafe, der gezielte Hungertod für Lagerhäftlinge wie Nawalny und viele andere Elemente des heutigen Russlands stehen in einer klar definierbaren Linie, die an die Zarenreiche und die asiatische Despotie ebenso angebunden bleibt, wie es die massenmörderische stalinistische Autokratie auszeichnete. Natürlich wird in Putins Orientierung an China ebenfalls das asiatisch-mongolische Erbe Russlands reaktiviert, in direkter Folge Stalins, dessen Großmachtchauvinismus Putin stark bewundert.
Der Autor kritisiert insbesondere den von ihm so genannten deutschen Russland-Komplex und beschreibt, wer alles in dieses große Netzwerk gehört. Die zahlreichen und weiterhin machtvollen Segmente dieses Komplexes umfassen nicht nur die Putinparteien AfD, BSW und Linke, sondern auch zahlreiche Organisationen und Personen in Wirtschaft, Kultur und Politik. Sie sind immer noch bereit, Deutschland in ein besonders enges Verhältnis zu Russland zu treiben und sich dem entwicklungsunfähigen weil diktatorischen Land anzunähern und längerfristig zu unterwerfen. Sie wollen nicht wahrhaben, dass die russische Diktatur die mongolisch-orientalische Tradition von Brutalität und Terror heute ebenso fortsetzt wie das politische System des Zarismus, in dem der oberste Monarch zugleich Eigentümer des ganzen Landes war; Putin hat die russischen Oligarchen politisch genauso neutralisiert wie die Zaren ihre reichen Oligarchen und wie das NS-Regime die deutschen Konzernherren.
In diesem Feld liegt die größte Stärke der Studie. Himmelreich zitiert Marx, der Russland als asiatische Despotie bezeichnete und seinen Gegensatz zu den westeuropäischen politischen Systemen betonte. Diese Erkenntnis war zentrales Ergebnis einer Analyse, die Marx 1856/57 geschrieben hat und die – wen wundert’s – von den in Moskau und Ostberlin editierten Ausgaben der Marx-Engels-Werke bis weit über die Mitte des 20. Jahrhunderts hinaus verheimlicht und unterdrückt wurde, natürlich, weil Kritik an Russland als Übermacht des Pseudosozialismus nicht erwünscht war und ernsthaft vorgetäuscht wurde, die Verhältnisse in der UdSSR und in Osteuropa hätten etwas mit Marx zu tun.
Selbstverständlich gehört auch Putins schneller und unterwürfiger Schritt an die Seite der chinesischen pseudosozialistischen Diktatur in diesen Kontext des mongolischen und asiatischen Erbes des Moskauer Reichs. Xi hat dasselbe System einer orientalisch-asiatischen Despotie aufgebaut, in dem die chinesischen Milliardäre genauso abhängig vom Diktator sind wie die russischen Oligarchen von Putin. Russland hat sich – das hat der deutsche Russland-Komplex immer noch nicht begriffen – längst von Europa ab- und Asien zugewandt, allerdings vor allem den befreundeten Diktaturen China, Nordkorea und Iran.
So hat sich insgesamt ein Teufelskreis der russischen Autokratie entwickelt, aus dem es keinen leichten Ausweg gibt. Das imperiale Selbstverständnis und die Unterdrückung der Freiheit sind die beiden gewaltigen Bremsklötze für wirtschaftlichen und technischen Fortschritt. Solange beide Hemmfaktoren nicht überwunden werden, bleibt Russland rückständig und imperialistisch. Beide Bremsklötze machen die historische Neurose eines im Wesen zutiefst erkrankten Landes aus, das seit Jahrhunderten die eigene Bevölkerung niederdrückt und ständig äußere Bedrohungen erfindet, die es angeblich zwingen, die Nachbarländer anzugreifen und nach Möglichkeit zu vernichten. Die Krim-Annexion, der Überfall auf Georgien und die Ukraine, der Massenmord in Syrien sind Folgen dieser abgrundtiefen Neurose, von der eine Heilung nicht möglich sein wird, solange dieses aggressive und antidemokratische Russland auf der Welt immer noch Partner und Unterstützer findet, wie zum Beispiel die autokratischen Führer von Indien und Brasilien.
Um zu präzisieren, was Himmelreich mit dem deutschen Russland-Komplex meint, hier einige der exemplarischen Namen aus dem kulturellen Bereich: Leibniz, Herder, Heine, Nietzsche, Spengler, Thomas Mann, Tucholsky, Ernst Bloch, Brecht, Feuchtwanger: Sie alle waren mehr oder weniger an einer Verklärung der politischen Realität Russlands zu ihrer Zeit beteiligt und schönten die Wirklichkeit der inneren Diktatur oder der Aggressionen nach außen. Von den Parteien ist heute – neben den Putinparteien AfD, BSW und Linke – vor allem die SPD noch immer in einem Denkmodell gefangen, das Deutschland bis heute in einer Schuld gegenüber Russland sieht, die nicht gerechtfertigt ist. Im Zweiten Weltkrieg hat NS-Deutschland in der UdSSR unfassbare Verbrechen begangen und daraus ergibt sich eine historische Schuld gegenüber diesem Staat, die in der SPD noch immer ausgeprägt empfunden wird. Diese Schuld muss zunächst in einem Punkt relativiert werden: Es geht nicht an, alle heute lebenden Deutschen für Verbrechen verantwortlich zu machen, die von einer Diktatur im Namen aller Deutschen durchgeführt wurden; man würde nämlich sonst so tun, als wäre Nazideutschland auf demokratischem Weg und durch den erklärten Wunsch einer Mehrheit der Deutschen entstanden; eine solche Mehrheit hat es aber nie gegeben, nicht einmal in der letzten Terrorwahl vom 5. März 1933, als die Demokratie schon nicht mehr bestand und das, was danach geschah, kann nicht mit dem Willen des deutschen Volks gleichgesetzt werden. Tatsächlich trägt die UdSSR ein großes Maß an Mitschuld für den Sieg der Nazis in Deutschland, denn ihr in jeder Hinsicht unqualifizierter Führer Stalin hat die Befehlsstrukturen in der Kommunistischen Internationale dazu benutzt, eine extrem dümmliche KPD-Führung zu einer Politik gegen die SPD zu bringen, mit der eine politische Gemeinsamkeit der Linken gegen die Faschisten verhindert wurde; in einigen anderen Ländern Europas entwickelten sich die Dinge anders, weil die KP dort sich nicht jede Bewegung von dem Massenmörder Stalin an der Spitze der UdSSR vorschreiben ließ.
Der andere Punkt ist allerdings akut von Bedeutung. Die SPD hat bei ihrer gesamten Friedenspolitik nach dem Zweiten Weltkrieg in Bezug auf diese historischen Verbrechen immer völlig fixiert auf Moskau und Russland gehandelt, fokussiert auf die Russen. Dabei hat sie übersehen oder ignoriert, dass die Ukraine mindestens genauso unter der deutschen Invasion in die UdSSR gelittten hat wie Russland und die Russen, aber eine Verantwortung oder Schuld gegenüber der Ukraine hat die SPD (genauso wie die Linkspartei und andere Linke) nie gekannt. Es ist und bleibt eine große historische Leistung von Timothy Snyder, auf diese Riesenlücke in der historischen Schuldfrage Deutschlands gegenüber der Ukraine hingewiesen und sie empirisch umfassend nachgewiesen zu haben. Drittens wäre auch noch darauf hinzuweisen, dass die UdSSR sich in vielfacher Weise an Deutschland gerächt hat, sobald sie es militärisch unterworfen hatte, zum Beispiel durch zwei Millionen Vergewaltigungen deutscher Frauen, durch über 220.000 Ermordungen deutscher Frauen, durch die fast totale Demontage deutscher Industrie und Infrastruktur, die autoritäre Überstülpung einer primitiven Diktatur und viele andere Verbrechen, für die Russland bis heute nicht gesühnt hat, obwohl es letztlich durch die Abwehr der deutschen Eroberung zu einer Weltmacht wurde, die weltweit praktisch autonom handeln konnte, weil sie damit zu einer der beiden großen Atommächte geworden war. Es existiert also eine Vielzahl von Gründen für eine vollständig andere Politik gegenüber Russland. Deutschland muss sich heute massiv und auch militärisch gegen Russland stellen, bis dieses Land sich von Diktatur und Krieg lossagt. Tut es das nicht, wird es selbst in Diktatur und Krieg untergehen.
Russland ist heute nicht mehr, auch nicht teilweise, auf Europa und Demokratie orientiert. Es führt eindeutig mongolische und imperiale Gewalt- und Herrschaftstraditionen fort. Die deutsche Geschichtsschreibung über Russland muss der Realität angepasst und fundamental verändert werden, denn wir müssen uns klar positionieren, wenn wir als Europäer, Demokraten und Friedensstaat überleben wollen. Der derzeitige Weltkonflikt besteht zwischen orientalischen Despotien und westlichen Demokratien, zwischen Diktatur und Freiheit. Das entscheidende Problem Russlands ist in diesem Zusammenhang, dass die überwältigende Mehrheit der russischen Bevölkerung das tendenziell faschistische, autoritäre System Putins und den Krieg der Großrussen gegen die Ukraine unterstützt. Dieser Minderheit von vielleicht 100 Millionen Menschen muss die große Mehrheit Europas, von mehr als 500 Millionen Menschen, baldmöglichst in den Arm fallen und den Weg nach Westen versperren, für alle Zeiten. Russland muss in seine bestehenden völkerrechtlichen Grenzen zurückgewiesen werden, am besten politisch, wenn nötig, militärisch. Europa braucht heute eine Anti-Putin-Koalition, eine deutliche historische Parallele zur Anti-Hitler-Koalition im 20. Jahrhundert.
Dafür ist eine andere deutsche Außenpolitik erforderlich. Grundlegend ist die Orientierung an der Wirklichkeit von Russlands Politik. Deutsche Politik in Bezug auf Russland muss davon ausgehen, dass dessen Außenpolitik durch aggressiven Expansionismus bestimmt wird, basierend auf einer Innenpolitik, die autokratisch, nationalistisch, unterdrückerisch und demokratiefeindlich ist. Deutschland muss seine immer noch dominierende pazifistische Einstellung gegenüber Russland überwinden, andernfalls wird es zerstört und gemeinsam mit der gesamten Europäischen Union verschwinden. Der Frieden in Europa verlangt erneut, wie zu den Zeiten der Hitler-Diktatur, eine gezielte Strategie militärischer Art, bei der Waffen eine herausragende Rolle spielen, denn gegen den Angreifer Russland hilft Diplomatie überhaupt nicht – weil Russland jede Glaubwürdigkeit verloren hat und es keinen Sinn hat, mit dem Land Verträge schließen zu wollen, solange es sich nicht vollständig hinter seine Grenzen zurückzieht. Russlands Außenpolitik wird heute von imperialistischer Ideologie bestimmt und gelenkt. Seine Innenpolitik steht unter der Dominanz der Kriegswirtschaft. Das bestehende System ist selbstmörderisch, aber es zielt darauf ab, diesen Selbstmord mit der Ermordung und Auslöschung anderer Völker und Nationen zu verknüpfen. Diese müssen sich zunächst militärisch so stark machen, dass sie Russland zusammen mit der Ukraine besiegen und entwaffnen. Dazu sind sie sehr wohl in der Lage, auch ohne die USA, denn sie haben in jeder Hinsicht eine große militärische Überlegenheit, personell, in Technik und Ausstattung sowie im Know-how, und sie vertreten als Europäische Union nicht nur eine Großmacht, sondern sie sind Teil der einzigen demokratischen und multipolaren Großmacht auf dem Globus, mit einer Systemperspektive, die von Humanismus, Demokratie und Frieden bestimmt wird.
Ich gebe hier zum Schluss die Konturen einer anderen Politik gegenüber Russland in Thesen wider, wie sie der Verfasser darstellt:
Erstens muss Russland den Ukrainekrieg verlieren; das ist das oberste Ziel deutscher und westlicher Außen- und Sicherheitspolitik. Dafür muss Deutschland schneller und mehr Waffen liefern, vor allem auch den Marschflugkörper Taurus. Zweitens muss es sich zusammen mit Europa von den militärischen Sicherheitsgarantien der USA unabhängig machen und selbst seine Militärausgaben deutlich erhöhen. In diesem Kontext kann sich Deutschland als Angriffsziel Nummer eins von Russland nur dann wirksam schützen, wenn es eine Verfügung über Atomwaffen erreicht, am besten in Kooperation mit Frankreich und Großbritannien. Drittens müssen Deutschland und die EU ihre Wirtschaft und Währungen weiter massiv stärken und ausbauen, auch im Bereich der Rüstung, daran geht kein Weg vorbei; Russland ist auf Jahrzehnte hin als Aggressor eine ernsthafte Gefahr für uns alle. Viertens bleibt es entscheidend, die inneren Verhältnisse in Deutschland und den EU-Staaten weiter demokratisch zu festigen und zu erweitern. Die Demokratisierung im Innern, die Rechte der Minderheiten, die Bürger- und Menschenrechte sind die zentralen Elemente, in denen die Überlegenheit der Demokratie gegenüber der russischen Diktatur zum Ausdruck kommt. Fünftens müssen sich die wirtschaftsstärksten Staaten Europas immer wieder auch jenseits der EU zusammentun, um eine starke Russlandpolitik zu betreiben, die Außenwirtschaftspolitik, Sanktionen und andere Maßnahmen einbegriffen, um Russland wirtschaftlich zu schwächen und an einer Fortsetzung seiner Kriege zu hindern. Sechstens müssen schnellstens alle Voraussetzungen für die Aufnahme Georgiens und der Ukraine in die EU und die NATO geschaffen werden, ohne dabei auf Russland Rücksicht zu nehmen. Siebtens ist heute die militärische Abschreckung gegenüber Russland die einzige denkbare Methode, um in Europa wieder den Frieden herzustellen und Russland an weiteren Überfällen und Aggressionen zu hindern. Achtens ist die deutsche Russlandpolitik verpflichtet, sich gegen alle anderen Formen des Kriegs zu stellen, die von Russland betrieben werden, seien sie kulturell, politisch, virtuell, hybrid oder wie auch immer geartet. Das heutige Russland muss mit militärischen, wirtschaftlichen, technologischen und ideellen Mitteln zurückgedrängt und geschwächt werden, wenn Deutschland in Frieden und Freiheit existieren will. Neuntens verlangt das Überleben Deutschlands und Europas den Mut zur Führung und Entscheidung, der beim heutigen Bundeskanzler nicht zu erkennen ist, im Gegensatz zu anderen Regierungsmitgliedern. EU-Führung und deutsche Politik müssen erkennen und als Richtlinie umsetzen, dass es ohne einen deutlichen Sieg über Putins Russland kein Überleben der Demokratie in Europa geben wird. Zehntens hat der Führer einer monströsen Tyrannei genau wie Hitler als Diktator die gesamte Friedensarchitektur Europas zerstört und es muss begriffen werden, dass die Herrschaft Russlands über den gesamten eurasischen Kontinent angestrebt wird. Die Antwort darauf kann nicht Zögern und Abwarten sein, sondern nur schnelles und zielgerichtetes Handeln aller Europäer, gegen Russland und seine menschenverachtende aggressive Politik, bis zu dessen vollständiger Niederlage. Dabei sollte Deutschland eine führende Rolle spielen!
Literatur: Orlando Figes, Eine Geschichte Russlands, Stuttgart 2022; Sabine Fischer, Die chauvinistische Bedrohung. Russlands Kriege und Europas Antworten, Berlin 2023; Timothy Snyder, Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin, München 2013; ders., Der Weg in die Unfreiheit. Russland, Europa, Amerika, München 2018; Karl Marx, Die Geschichte der Geheimdiplomatie des 18. Jahrhunderts. Über den asiatischen Ursprung der russischen Despotie, Berlin 1977; Karl A. Wittfogel, Die orientalische Despotie. Eine vergleichende Untersuchung totaler Macht, Frankfurt/Main, Berlin, Wien 1977; Anne Applebaum, Der eiserne Vorhang. Die Unterdrückung Osteuropas 1944-1956, München 2012; Gert Schäfer, Josef Wissarionowitsch Stalin (1879-1953), in: Walter Euchner (Hg.), Klassiker des Sozialismus. Zweiter Band. Von Jaurès bis Marcuse, München 1991, S. 128-150; Gesine Dornblüth/Thomas Franke, Jenseits von Putin. Russlands toxische Gesellschaft, Freiburg im Breisgau 2023; dies., Putins Gift. Russlands Angriff auf Europas Freiheit, Freiburg im Breisgau 2024.