Linke Politik, was ist das eigentlich? Seit etwa 10 Jahren sind weltweit die Rechten im Aufwind, die Linken im Niedergang. Woran liegt das? Wollen die Menschen keine linke Politik? Wollen sie, dass die Rechten die Macht haben und über sie bestimmen? Welches sind die Faktoren und Ursachen, die für diesen allgemeinen Trend verantwortlich sind? Gibt es Ansätze, die zeigen, wie die Rechten zurückgedrängt werden können? Hat nicht gerade in Brasilien der faschistische Präsident die Wahl gegen einen Sozialdemokraten verloren? Musste der halbfaschistische Führer der USA nicht 2020 sein Amt aufgeben, trotz seines Putschversuchs? Gab es bei der Bundestagswahl 2021 nicht eine leichte Entwicklung nach links, hin zur Ampelregierung? Hat nicht die AfD, diese Mischung aus Faschisten, Halbfaschisten und extrem rechten Konservativen, bei dieser Wahl gegenüber der von 2017 Stimmen verloren?
Andererseits – waren viele Regierungen, die deutsche eingeschlossen, während der Coronoakrise mit ihren diktatorischen Maßnahmen nicht dabei, ohne großes Zögern ein ordentliches Stück Faschismus zu zeigen, mit Ausgangssperren, Versammlungsverboten, Aussperrungen und anderen Notstandsmethoden, bei denen die bürgerlichen Freiheiten zeitweilig nicht existierten? Standen hier nicht erstmals seit 1945 plötzlich bürgerliche und sozialdemokratische Politiker, jahrzehntelang als Demokraten erprobt, für eine Politik, über die sich ein Carl Schmitt höchst erfreut gezeigt hätte? Und geschah das nicht alles, ohne die Bürger zu fragen oder durch Wahlen für solche Maßnahmen legitimiert zu sein? Waren das nicht Maßnahmen aus dem klassischen Arsenal der Diktatur, die man viel eher den rechten Parteien zugetraut hätte? Was bedeutet den heutigen Politikern die Demokratie im Fall einer Krise?
Nachdenken über linke Politik erfordert mehr als solche Fragen. Die entscheidende Grundlage linker Politik müssen die Bedürfnisse und Interessen der großen Mehrheit eines Landes bzw. der gesamten Erde sein. Anders ist linke Politik nicht denkbar und nur ein Schatten ihrer selbst, eine Ansammlung von Worthülsen und ein Konglomerat von schwammigen, hilflosen Phrasen. Die individuellen Bedürfnisse jedes einzelnen Individuums auf der Erde umfassen materielle und ideelle Bedürfnisse, die Maslow als Pyramide hierarchisiert hat; ich betrachte sie eher als gleichwertig und für linke Politik sind sie mir alle gleich wichtig, die Ernährung genauso wie Kunst und Kultur oder die demokratische Partizipation. Entscheidend für die Gestaltung der Möglichkeiten, diese Bedürfnisse realisieren zu können, sind Systeme und Strukturen, also kollektive Interessen.
Auf dieser Grundlage scheinen mir die bedeutendsten Interessen der Menschen, auch in der Bundesrepublik, klar definierbar zu sein, im Jahr 2023. Es sollte um eine Gesellschaft gehen, in der Armut, Arbeitslosigkeit, Krieg, Bildungsschwäche, unzureichende Gesundheitsversorgung und Umweltzerstörung nicht zugelassen werden, in der die soziale Ungleichheit gering ist und es viele Möglichkeiten politischer und gesellschaftlicher Mitbestimmung gibt, in der die Kulturen blühen. Für diese wesentlichsten Interessen der großen Mehrheit in diesem Land gibt es zunächst zwei unbedingt notwendige Schritte: Erstens muss die Macht der Konzerne in allen Bereichen des Lebens beseitigt werden, was nichts anderes bedeutet als die Auflösung der Konzerne und ihre Überführung in gesellschaftliches (nicht zentralstaatliches) Eigentum. Zweitens muss im Verlauf dieser Auflösung das kapitalistische Wirtschaftssystem überwunden werden, indem das zuvor kapitalistische Eigentum neu auf die gesamte Gesellschaft verteilt wird, und alle Unternehmen müssen in ihren Organisationsformen demokratisiert und selbstverwaltet strukturiert werden. Im Normalfall gehört ein Unternehmen denen, die in ihm arbeiten. Ein Teil davon könnte in genossenschaftlichem, kommunalem oder föderalem Besitz sein. Diese Beseitigung der Macht der Konzerne ist die einzige relevante Voraussetzung dafür, dass die oben genannten Ziele verwirklicht werden können. Es ist die Macht der Konzerne und der Reichen, denen sie gehören, die für Armut, Arbeitslosigkeit, Krieg, Umweltzerstörung, Bildungsnotstand und soziale Ungleichheit verantwortlich ist. Diese Macht ist heute unvorstellbar groß und die schlimmste Last, die auf den bundesdeutschen 83 Millionen, aber auch auf den 8 Milliarden auf der Erde liegt und sie tendenziell erdrückt.
Wenn eine Gesellschaft ihre soziale Ungleichheit und die Umweltzerstörung überwinden will, muss sie den Pfad der Demokratisierung aller Strukturen und der Beseitigung von Armut und Reichtum beschreiten. Wenn sie es nicht schafft, die Macht der Reichen und der Konzerne zu überwinden, kann sie niemals die Umwelt oder das Klima retten. Wenn sie es nicht erreicht, dass die politische Macht in der Gesellschaft genauso wie der materielle Besitz auf alle Schultern verteilt wird, ist eine gute Zukunft nicht möglich. Deshalb muss heute linke Politik – nicht nur in der Bundesrepublik, sondern in allen Ländern der Erde – zwei entscheidende Strukturveränderungen vornehmen, die unabdingbar sind: Erstens muss ein ausreichendes bedingungsloses Grundeinkommen für alle eingeführt werden, das die Armut überwindet und zweitens ist die direkte Demokratie im politischen System und in allen Sphären der Gesellschaft einzuführen. Beides wird sicherlich ein Prozess sein, aber er ist unausweichlich.
Das ist aus meiner Sicht heute der Kern linker Politik. Wer diese beiden massiven Veränderungen nicht gezielt und systematisch anstrebt, kann heutzutage keine linke Politik mehr realisieren. Es ist einfach zu viel passiert, um das nicht zu erkennen. Dieser Kern der linken Politik entspricht den aktuell wichtigsten Interessen und Bedürfnissen von etwa 99 Prozent der bundesdeutschen 83 Millionen, aber auch der 8 Milliarden weltweit. Nur über die Praxis des bedingungslosen Grundeinkommens und der direkten, umfassenden Demokratie kann sich die bundesdeutsche große Mehrheit und die Menschheit insgesamt in die Lage bringen, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen, um sich von jeder Form von Herrschaft und Manipulation zu befreien und eine nachhaltige, bessere Welt zu schaffen, in der jedes einzelne Individuum gut leben kann, ohne Ausbeutung, Unterdrückung, Benachteiligung und Täuschung.
Literatur: Heinz Arnold, Linke Politik. Eine kritische Einführung, Hamburg 2020; Richard Wilkinson/Kate Pickett, Gleichheit. Warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind, Berlin 2016; Urs Marti-Brander, Die Freiheit des Karl Marx. Ein Aufklärer im bürgerlichen Zeitalter, Reinbek 2018.